Einige Tage später:

Mit kraftvollen Schlägen ihres Boken [Übungsschwert aus Holz] trieb Joanna ihren Trainingspartner quer durch die Halle. Der junge Mann verteidigte sich tapfer, kam aber gegen ihre Kraft und Gewandtheit nicht an.

Adam, der große, blonde "Giftmischer" des Greifen, stand mit verschränkten Armen neben Sean und beobachtete das Schauspiel. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung, nicht umsonst nannte man ihn "Die Maske", denn als guter Pokerspieler zeigte er nie sein wahres Gesicht. Ohne den Blick von den Kämpfenden zu nehmen sagte er zu Sean:

"Sie ist gut."

Sean, der sich mit dem Rücken an Josephs breite Brust gekuschelt hatte und leise schnurrte, während sein Geliebter ihm den Nacken kraulte, blickte auf.

"Hm?", fragte er.

"Ich sagte, sie ist gut - dir durchaus ebenbürtig", antwortete Adam.

Sean folgte Adams Blick und beobachtete das Gefecht einen Augenblick.

"Sie ist nicht schlecht. Aber ob sie mir ebenbürtig ist, muss sich erst noch zeigen." Damit löste er sich aus Josephs Umarmung, drehte sich zu ihm um, küsste ihn zärtlich und näherte sich lautlos dem Kampf.

In diesem Moment schlug Joanna ihrem Gegner das Holzschwert aus der Hand.

Ohne hinzusehen, den Blick fest auf Joanna gerichtet, fing Sean das durch die Luft segelnde Schwert auf.

"Nicht schlecht", sagte er.

Mit einem grimmigen Gesichtsausdruck drehte sich Joanna um. Als sie erkannte, dass es sich bei dem Sprecher um den Sai-Kämpfer von neulich handelte, blitzten ihre Augen auf.

"Wer bist du, dass du dir ein Urteil erlauben kannst?", fragte sie provozierend.

"Als Assassine des Greifen kann ich mir sehr wohl ein Urteil über deine Kampftechnik erlauben", antwortete Sean ruhig.

"Dann beweise es, ob du besser bist als ich!", knurrte Joanna. Sie war jetzt erst richtig warm geworden und sehnte sich nach einem ordentlichen Kampf. "Aber beschwer’ dich hinterher nicht, wenn ich dich vor deinen Freunden bloßstelle!"

Sean nickte nur, griff hinter sich und zog zwei lange Messer aus einer Rückenscheide. "Willst du einen vernünftigen Kampf oder nur ein kleines Gefecht?", fragte er Joanna.

Mit schiefgelegtem Kopf sah ihn die Rothaarig an, dann auf ihr Boken. "Mit diesem Spielkram einen Kampf? Du machst wohl Witze! Damit kann man ein bisschen üben, aber nicht kämpfen."

Sean winkte einen Jungen heran, flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser sah ihn erstaunt an, verneigte sich kurz und rannte davon. Augenblicke später war er zurück.

"Wenn du einen richtigen Kampf willst, dann dürfte das wohl eher deinem Geschmack entsprechen", sagte der Assassine und deutete auf den in blutrote Seide verpackten länglichen Gegenstand, den der Junge ihr nun reichte.

Sie nahm ihn mit gerunzelter Stirn entgegen und drückte dem staunenden Knaben dafür ihr Boken in die Hand. Langsam streifte sie die Seide ab. Als sie den Gegenstand ausgepackt hatte, pfiff sie leise durch die Zähne.

"Ein Tachi!" [dem Katana ähnlich, aber mit einer längeren Klinge] Sie betrachtete das Schwert von allen Seiten, zog es ein Stück aus der Scheide und besah sich die Klinge. Ihre Augen weiteten sich noch mehr, dann blickte sie Sean an.

"Ein Tachi von Masamune? [berühmter japanischer Schwertschmiedemeister 1264 – 1344] Ich dachte, die wären alle in irgendwelchen Museen vergraben." Erstaunen machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie zog das Schwert ganz aus der Scheide und schwang es probehalber durch die Luft.

"Herrlich!", flüsterte sie, sah dann wieder Sean an und sagte: " Ja, damit kann man kämpfen."

 

 

Das Schwert zog einen blitzenden Kreis, bevor Joanna es abrupt einige Millimeter vor Seans Gesicht zum Stehen brachte. Der rotblonde Assassine verzog keine Miene.

"Eine herrliche Waffe", flüsterte Joanna. Mit einer ehrfürchtigen Bewegung ließ sie die ungeschliffene Seite der Klinge vom Stichblatt zur Spitze über ihre linke Hand, die immer noch die Scheide hielt, gleiten und steckte es mit einer fließenden Bewegung wieder zurück. Langsam, ohne Sean aus den Augen zu lassen, ging sie in die Hocke, legte behutsam das Schwert vor sich auf den Boden. Dann nestelte sie den Verschluss ihrer weißen Kampfsportjacke auf, zog sie aus und warf sie mit einer achtlosen Bewegung fort. Während sie sich mit dem Tachi in der Hand wieder aufrichtete, ging ein bewunderndes Raunen durch die Umstehenden. Das schwarze Spitzenbustier, welches sie trug, enthüllte mehr, als es verbarg. Doch Sean ließ sich dadurch nicht beeindrucken, sondern entledigte sich ebenfalls seines T-Shirts. Beim Anblick des über dem Herzen tätowierten Greifens, dem Wappentier der Álvarez, der auf dem Zepter des Vampir-Clans der Ventrue saß, umgeben von den Flammen der Inquisition, dem Zeichen der Familie de Torquemada, zog Joanna anerkennend die Brauen hoch.

"Nette Tätowierung", sagte sie, zog das Schwert aus der Scheide und steckte diese in den Gürtel ihrer Hose.

Ohne Antwort, übergangslos, griff Sean an. Er schlug mit der linken Hand nach Joannas Beinen, während er mit der rechten Hand auf ihre Kehle zielte. Joanna wehrte diesen Hieb mühelos ab. Aber der Hieb gegen ihre Beine zeigte Wirkung. Eine blutrote Linie zog sich über ihren linken Oberschenkel. Doch dem schenkte sie keine Beachtung. Beide Kämpfer zogen sich ein wenig zurück um sich wachsam zu mustern. Die Zeit des Taxierens war vorbei. Beide griffen jetzt mit voller Kraft an. Langsam umkreisten sie sich, immer auf der Suche nach einem Fehler, einer Lücke in der Abwehr des Anderen. Doch sie waren sich zu ähnlich, um in die Falle des anderen zu gehen.

Dann, mit einem Mal, sprang Joanna vor, täuschte einen Schlag auf Seans Beine vor, zog blitzschnell die Klinge in einem weiten Kreis hoch und ließ sie von oben auf ihn niedersausen. Der Assassine hob beide Hände, kreuzte die Messer und wehrte den Schlag ab. Die Rothaarige zog das Schwert zurück, drehte sich und trat Sean rückwärts vor die Brust. Er taumelte kaum einen Schritt zurück, fing sich wieder und griff nun seinerseits an. Der Klang des aufeinandertreffenden Metalls hallte durch die Hallen. Sean schlug hart zu, aber Joanna blockte die Schläge gekonnt ab. Auch ihre Schläge waren gezielt und kraftvoll. Es war deutlich zu sehen, dass sie im Kampf mit dem Schwert äußerst intensiv geschult worden war. Keiner schenkte dem anderen etwas.

Mittlerweile hatten alle Anwesenden ihr Training eingestellt und standen stumm in einer großen Runde um die Kämpfer. Außer dem schweren Atem der beiden und dem Klingen des Metalls der aufeinandertreffenden Waffen war kein anderer Laut zu hören. Was Sean ihr an Kraft voraus hatte, machte Joanna durchaus durch ihre Geschwindigkeit und Beweglichkeit wett. Kreuz und quer ging der Kampf durch die Halle. Über Turn- und Hantelbänke, um Sandsäcke und über Mattenstapel. Mal trieb der schlanke Assassine die rothaarige Kämpferin vor sich her, mal umgekehrt. Immer wieder wechselte das Kampfglück und machte deutlich, dass sich die Gegner durchaus ebenbürtig waren.

Mehr als einmal mussten die Zuschauer den Kämpfenden ausweichen. Adam verfolgte den Kampf sehr aufmerksam, notierte sich im Geiste sowohl Seans als auch Joannas Fehler.

Leise trat Kalep hinter Adam, legte seine Arme um ihn, hauchte ihm einen Kuss hinter das Ohr und fragte leise:

"Was macht denn Sean da? Haut er ihr gerade die Jacke voll oder eher sie ihm?" Adam schmiegte sich an den Größeren und antwortete, ohne sich umzudrehen:

"Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Normalerweise würde ich sagen, ER haut IHR die Jacke voll. Aber nach dem ich den Kampf eine Weile beobachtet habe, denke ich, dass Sean nur sehr knapp gewinnen wird. Sie ist wirklich gut." Der Blonde nickte anerkennend.

 

 

Mittlerweile bluteten sowohl Joanna als auch Sean aus mehreren, wenn auch leichten, Wunden, was jedoch weder die Gewandtheit noch den Kampfeswillen der beiden beeinträchtigte. Mit einer Finte gelangte der Rotblonde hinter Joanna und zog ihr das rechte Messer quer über den Rücken. Augenblicklich perlte Blut aus dem langen Schnitt und färbte den Bund der weißen Kampfsporthose rot.

Mit einem Schrei, aus dem nicht nur der Schmerz, sondern auch deutlich die Wut herauszuhören war, wirbelte Joanna herum. Wut auf sich selbst, sich so übertölpeln zu lassen und dem Gegner einen solchen Vorteil verschafft zu haben. Nun war Joannas Ehrgeiz erst richtig angestachelt. Diese Verletzung schrie regelrecht nach einer Revanche. Sie verlangsamte ihren Kampf, um den Rotblonden davon zu überzeugen, dass sie ausgepumpt sei. Doch er beobachtete sie genau und durchschaute diese Finte. Unerwartet rannte sie los, sprang hoch, flankte mit einem Überschlag über Sean hinweg und landete geschmeidig hinter ihm. Sofort federte sie aus der Hocke hoch, trat ihm blitzschnell in die Kniekehlen und brachte den Assassinen damit zu Fall. Sean fiel nach vorn, rollte sich gewandt über die Schulter ab und stand sofort wieder auf den Füssen. Die Augen zu Schlitzen verengt, fuhr er herum und sah Joanna lauernd an. Langsam, mit katzenhaften Bewegungen kam er auf sie zu, hob die rechte Hand und stach nach ihr.

Ein gewaltiger Satz rückwärts brachte Joanna in Sicherheit. Es entbrannte wieder ein heftiges Gefecht. Sean trieb die schlanke Kämpferin rückwärts durch die Halle, bis sie mit dem Rücken an eine Wand stieß. Joanna hob das Schwert und wollte zuschlagen.

Doch der langhaarige Assassine war schneller, ergriff mit einer blitzschnellen Bewegung der Linken die Schwerthand, nagelte sie über ihrem Kopf an die Wand und drückte ihren Körper mit dem seinen an die Mauer. Die Rechte legte er mit dem Messer an ihrer Kehle. Ganz nah brachte er sein Gesicht an das ihre und blickte in ihre wutblitzenden blauen Augen. Dann knurrte er:

"Du bist gut, das muss der Neid dir lassen. Aber wie weit bist du bereit, zu gehen?"

Mit leicht keuchender Stimme antwortete sie ebenso knurrend:

"Ich habe keine Angst vor dem Tod, wenn du das meinst. Aber ich bin nicht bereit, einen sinnlosen Tod zu sterben. Und der Tod in einem Trainingskampf ist sinnlos." Von einem Augenblick zum Anderen änderte sich der Ausdruck ihrer Augen. Plötzlich lag unübersehbarer Schalk in ihnen. Sie beugte sich, die Klinge an ihrer Kehle ignorierend, ein wenig vor und drückte Sean einen Kuss auf die Nase. Dieser war einen Herzschlag lang völlig irritiert.

Joanna nutzte diese minimale Zeitspanne aus, um ihm einen kräftigen Schlag vor die Brust zu verpassen, der ihn zurücktaumeln ließ. Doch der Assassine rollte sich geschickt rückwärts über die Schulter ab und stand augenblicklich wieder auf den Beinen.

Aber auch Joanna ließ diesen Moment nicht ungenutzt verstreichen, zog mit dem Schwert einen großen Bogen. Den Schwung der Bewegung nutzend brachte sie sich nun ihrerseits hinter Sean. Noch ehe sie ihn angreifen konnte war er schon herum und in Abwehrstellung gegangen. Wieder begann ein wilder Schlagabtausch.

Alle starrten so fasziniert auf den Kampf, dass niemand die Gestalt bemerkte, die sich leise aus einem Schatten löste. Sie beobachtete beide Kämpfer genau und mit Kennerblick.

Der harte Kampf erschöpfte Joanna jedoch mehr, als sie sich eingestehen wollte. Sie war zwar trainiert, aber an einen so hartnäckigen und starken Gegner war sie vorher noch nicht geraten. Die Erschöpfung ließ sie rückwärts über eine Hantel stolpern. Sofort war Sean über ihr, setze den linken Fuß auf ihre Schwerthand, kniete sich über sie und setzte eines der Messer an ihre Kehle.

"Gibst du auf?", fragte er ruhig.

Ehe sie antworten konnte, ertönte ein Klatschen aus dem Schatten am Ende der Halle. Alle drehten sich um. Nur der Assassine ließ Joanna nicht aus den Augen.

"Sehr gut, Sean." sprach eine tiefe, wohlklingende Stimme. "Aber lass sie leben, bitte."

"Wie Ihr wünscht, Herr", antwortete Sean und erhob sich von Joannas Körper. Die dargebotene Hand ignorierend zog Joanna die Beine an den Körper und schnellte sich mit einem Satz in die Höhe, ließ wieder die Klinge des Schwertes mit der ungeschliffenen Seite über ihre linke Hand und dann in die Scheide zurückgleiten. Jetzt erst drehte sie sich zum Sprecher um.

Sean war mittlerweile auf ein Knie gegangen, hatte die rechte Faust auf seine Greifentätowierung gelegt und den Kopf geneigt. Erstaunt beobachtete Joanna diese Respektsgeste des Rotblonden. Sie hob den Blick und sah die Person an, der diese Ehrerbietung galt. Vor ihr stand ein Mann unbestimmbaren Alters. Er wirkte jung und doch irgendwie uralt. Sein durchtrainierter, in schwarze Kleidung gehüllter Körper wurde von knielangen, schwarzen Haaren umschmeichelt. Was ihr sofort auffiel, war seine Ausstrahlung, seine Aura. Ähnlich wie die Seans konnte sie sie körperlich fühlen. Ein warmes Lächeln huschte über sein Gesicht und entblößte spitze Vampirzähne.

"Steh auf, Sean", forderte der Schwarzhaarige ihn leise auf. Der Assassine erhob sich, behielt aber eine respektvolle Haltung bei.

"Das war ein netter Kampf, den ihr beide euch da geliefert habt. Hast du sie herausgefordert?" Er richtete die Frage an Sean. Doch ehe dieser antworten konnte, sagte Joanna mit funkelnden Augen:

"Er hat mich provoziert. Er war der Meinung, ich würde nicht gerade schlecht kämpfen. Und ich habe ihm den Beweis geliefert, wie gut oder wie schlecht ich bin."

Ein amüsiertes Grinsen zog über das Gesicht ihres Gegenübers. "Es gehört schon einiges dazu, einen meiner Assassinen herauszufordern. Meinen Respekt, Miss Heldt."

Erstaunt darüber, dass er ihren Namen kannte, sah Joanna ihn genauer an. Dann neigte sie respektvoll den Kopf, legte die rechte Hand auf ihr Herz und antwortete:

"Verzeiht, dass ich Euch nicht gleich erkannt habe, Don Jaime."

Wieder das amüsierte Grinsen.

"Ihr beide solltet zu François gehen und euch verarzten lassen. Vor allem Sie, Miss Heldt, damit auf Ihrem bezaubernden Rücken keine Narbe zurückbleibt."

"Ja, Herr", antwortete Sean und wendete sich zum Gehen. Als er an Joanna vorbeiging, hielt er auffordernd die Hand auf und sie legte ihm mit einem bedauernden Seufzer das Tachi hinein.

Dann drehte sie sich auch um, um sich zu entfernen, doch ein leises "Joanna!" hielt sie zurück. Der Vampir trat dicht an sie heran. Wieder umwehte sie seine Aura, die sie aber noch nicht richtig einzuordnen wusste. Er beugte sich ein wenig vor, ergriff ihre Hand, hauchte einen Kuss darauf und fragte leise und vertraulich:

"Würdest du mir die Freude machen, heute Abend mit mir zu speisen?" Ein erregtes Glitzern trat in Joannas Augen, als sie antwortete:

"Gerne, Don Jaime."

Leise sprach der Vampir weiter: "Dann erwarte ich dich um 21:00 Uhr in meiner Villa vor der Stadt. Gerd wird dich abholen und zu mir bringen." Mit einem koketten Augenaufschlag sagte Joanna:

"Dann gestattet mir, mich zurückzuziehen, damit ich mich verarzten lassen kann." Einen weiteren Kuss auf ihre Hand hauchend entließ der Vampir die Kämpferin mit den strahlend blauen Augen.

 

 

Am Ausgang der Halle erwartete sie bereits Sean. Er sah sie mit einem undeutbaren Blick an und fragte ruhig:

"Soll ich dich zu François, unserem Arzt, begleiten oder kennst du den Weg?" Joanna schüttelte den Kopf.

"Nein, ich kenne den Weg nicht. Wenn du ihn mir zeigen würdest?" Sie schenkte ihm ein verführerisches Lächeln und fügte mit einem leisen Schnurren hinzu: "Bitte."

Über den offensichtlichen Verführungsversuch hinwegsehend, winkte Sean ihr, ihm zu folgen. Als sie kurz darauf bei François ankamen, schüttelte dieser nur den Kopf über den Anblick der beiden.

"Oh Mann, Sean, kannst du dich nicht mal bei einer Frau zurückhalten?", stichelte er. Joanna sah den jungen Mediziner lächelnd an, als sie erwiderte:

"Dann wäre ich ihm aber ernstlich böse gewesen. Es war ein herrlicher Kampf. Noch mal vielen Dank dafür", sagte sie dann in Seans Richtung.

"Wenn du mal wieder Lust auf einen vernünftigen Fight hast, dann melde dich", konterte der Rotblonde grinsend. François besah sich in der Zwischenzeit Joannas Verletzungen. Dann suchte er Nadel, Faden, Tupfer und ein Lokalanästhetikum zusammen und wollte sich an die Verarztung machen. Sean trat an ihn heran und sagte leise zu ihm:

"Don Jaime wünscht, dass keine Narben zurückbleiben." François nickte nur, stellte die Schale mit den Utensilien zur Seite und holte aus einem Medizinschrank eine kleine Kristalldose hervor.

"Was ist das?", fragte Joanna misstrauisch.

"Ein Heilmittel, das dafür sorgt, dass der Schnitt auf deinem Rücken ohne Narbe verheilt", sagte François.

"Nein!!" Die junge Frau schüttelte entschieden den Kopf. Fragend zog der Arzt eine Braue hoch.

"Nein?"

"Nein!" bestätigte Joanna noch einmal. "Ich WILL, dass eine Narbe zurückbleibt. Sie soll mich immer an meinen ersten verlorenen Kampf erinnern", knurrte sie grimmig und sah dabei Sean tief in die Augen.

"Wie du meinst", zuckte François mit den Schultern. "Dann willst du wahrscheinlich auch keine Lokalanästhesie?" Eine rein rhetorische Frage des Arztes. Joanna wendete ihren Blick von Sean zu François und nickte.

"Stimmt." Als der junge Mediziner mit der Naht begann, zog Joanna scharf die Luft durch die Zähne, krallte ihre langen Fingernägel in den Bezug der Behandlungsliege und biss die Zähne zusammen, dass sie krachten. Aber die Genugtuung eines Schmerzenslautes wollte sie weder dem Arzt noch dem Assassinen gönnen. Und keiner der beiden sah die Tränen, die leise in den Bezug der Liege tropften.

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