"Hallo François."

Joanna trat leise durch die Praxistür. Der junge Arzt sah von seinen Akten auf und lächelte die rothaarige Schönheit an.

"Hallo Joanna. Was kann ich für dich tun? Ich hoffe, deine Wunde hat sich nicht entzündet oder so?" Joanna erwiderte das Lächeln, schüttelte den Kopf.

"Nein. Sie ist ganz wunderbar verheilt. Sieh’ selbst." Im Umdrehen zog sie ihr Sweatshirt über den Kopf, um dem Arzt ihre Rückseite zu präsentieren. François kam um seinen Schreibtisch herum, um die Verletzung genauer in Augenschein zu nehmen.

"Ich bin ja immer noch der Meinung, wir hätten den Inhalt der Kristalldose benutzen sollen", brummelte er vor sich hin, betastete vorsichtig die noch leicht gerötete Narbe und nickte. Joanna schloss die Augen und schnurrte sanft.

"Hmmmmm, du hast so schöne warme Hände", sagte sie leise, drehte sich um, während sie das Sweatshirt wieder anzog. "Wieso bist du eigentlich noch solo? Die Mädels müssten doch bei dir Schlange stehen", neckte sie ihn. "Ja, ja, ich weiß." Abwehrend hob sie die Hände, bevor er etwas entgegnen konnte. "Du bist mit deinem Beruf verheiratet. Aber, mein lieber Doktor, du arbeitest zu viel." Tadelnd hob sie den Zeigefinger und grinste ihn an. "Das werden dir die anderen hier im Haus des Greifen bestimmt auch andauernd sagen."

"Du bist doch nicht hergekommen, um mir eine Moralpredigt zu halten, oder? Was kann ich denn nun für dich tun?", versuchte er genervt das Thema zu wechseln. Joanna lächelte ihn liebevoll an, ehe sie antwortete:

"Ich bräuchte ein paar Dinge aus deinem "Giftschrank.""

Seufzend sah sie in sein fragendes Gesicht.

"Als ich aus Tokyo abgereist bin, wusste ich nicht, dass mir die Arbeit bis hierher nachläuft. Ich habe einen Auftrag zu erledigen, bei dem ich wahrscheinlich eine Menge Alkohol trinken muss. Sensei [(Lehr-) Meister] Narahito hat für mich eine Mixtur entwickelt, die verhindert, dass der Alkohol ins Blut geht. Ich habe ja nicht damit gerechnet, dass ich sie brauche, also habe ich natürlich nicht alle Zutaten dabei. Kannst du mir vielleicht aushelfen?" Bittend sah sie ihn an. François nickte, öffnete einen hinter ihm stehenden Medizinschrank und trat mit einer einladenden Handbewegung zur Seite.

"Bedien’ dich", sagte er.

Mit einem dankbaren Lächeln ging Joanna auf den Schrank zu, betrachtete aufmerksam dessen Inhalt und griff nach einigen kleinen Fläschchen und Dosen, die sie auf den Schreibtisch stellte. François betrachtete neugierig ihre Auswahl.

"Das Rezept würde mich ja brennend interessieren", sagte er. Joanna blickte auf, dann trat ein Glitzern in ihre Augen.

"Klar kannst du das Rezept haben. Wenn du Lust hast, komm doch mit rauf in meine Hexenküche, dann zeige ich dir, wie ich es zusammenbraue."

"Deine Hexenküche? Hört sich ja mächtig geheimnisvoll an. Wo ist die denn?"

"Ach, du weißt es ja noch gar nicht! Jaime hat mir hier im Haus des Greifen eine Wohnung angeboten, für die Zeit, die ich in New York bin. Und so ein Angebot lehnt man ja natürlich nicht ab", sagte sie mit einem hintergründigen Lächeln. François sah sie ein wenig erstaunt an, sagte aber nichts.

"Tja, interessieren würde mich die Sache schon, aber ich kann schlecht aus der Praxis weg." Verlegen kratze er sich am Hinterkopf. Joanna überlegte einen Moment.

"Mach doch einen Zettel an die Tür, wo du zu erreichen bist. Bleibst ja im Hause." Ein erleichtertes Grinsen zog über sein Gesicht.

"Gute Idee. Außerdem können sie ja pfeifen, wenn mich jemand braucht." Energisch stand er auf, schrieb auf einen großen Zettel Joannas Wohnungsnummer und pinnte ihn an die Praxistür. Dann packte er die Zutaten, die Joanna ausgewählt hatte, in eine Nierenschale und öffnete, sich verbeugend, die Tür.

"Nach Euch, Mylady", sagte er mit einem breiten Grinsen. Joanna schritt würdevoll an ihm vorbei und antwortete ebenso grinsend mit einem Kopfnicken:

"Habt Dank, Medicus."

Auf dem Weg durch das Haus fragte Joanna den Arzt, was er damit gemeint habe, man könne ja nach ihm pfeifen. François erzählte ihr, dass diese Art der Kommunikation, "El Silbo"[1] genannt, ein Erbe der Guanchen [Ureinwohner der Kanarischen Inseln] von La Gomera war, welches die Vampire aus ihrer spanischen Heimat mit nach Amerika gebracht hatten und die nun den Greifen weltweit als Verständigung über weite Strecken diente.

"Diese Methode hat zudem den Vorteil, dass sie abhörsicher ist, da nur Eingeweihte sie verstehen."

Vor Joannas neuer Wohnung angekommen, sagte François:

"Da hat Jaime dir aber die kleinste Wohnung verpasst, die wir hier im Haus des Greifen haben."

"Och, mir reicht sie vollkommen", war ihre Antwort, während sie die Tür öffnete und dem Arzt den Vortritt ließ. "Auf jeden Fall besser, als im Hotel. Da ich meist nachts arbeite, ist ein Hotel immer eine schlechte Ausgangsbasis. Außerdem muss ich manchmal schnell und ungesehen kommen und gehen können. Das ist in einem Hotel auch nicht so einfach, selbst wenn der Drache mir jedes denkbare Hotel bezahlt."

Joanna ging in die kleine Küche vor, stellte einen Topf mit Wasser auf den Herd und machte ihn an. Anschließend holte sie aus dem Badezimmer ihr Beautycase. François stellte die Nierenschale mit den Zutaten auf den Tisch, setzte sich.

"Wird diese Mixtur gekocht?", fragte er neugierig und wies mit dem Kinn zum Herd. Joanna blickte zum Herd, dann wieder zu François. Lachend schüttelte sie den Kopf.

"Nein, das Wasser ist für den Tee, den ich mir kochen wollte. Möchtest du auch einen?" François nickte.

Als dann vor beiden je eine große Tasse dampfenden Tees stand, begann Joanna mit dem Zusammenrühren ihrer Mixtur, interessiert beobachtet von François.

In einen kleinen Messzylinder träufelte sie mal aus dieser, mal aus jener Flasche einige Tropfen. Dann nahm sie mit einem kleinen Spatel, der aussah, als ob er eigentlich für Kosmetika bestimmt sei, eine kleine Dosis aus einer der Büchsen, die sie sich aus François’ Medizinschrank genommen hatte. Zum Schluss verschloss sie den Zylinder mit einem Korken und schüttelte ihn kräftig durch.

"So, fast fertig. Nun muss das Ganze noch ungefähr eine halbe Stunde ruhen, damit sich die Schwebstoffe absetzen können. Lass uns solange ins Wohnzimmer gehen." Dort angekommen, blickte Joanna in François’ Augen. Ein Lachen brach sich Bahn, als sie sich setzte.

"Worüber lachst du?", fragte er.

"Über dein Gesicht. Es ist ein einziges Fragezeichen. Ich werde dir die ganze Sache erläutern. Dir als Mediziner muss ich ja wohl nicht erklären, dass die Wirkung von Alkohol erst eintritt, wenn er ins Blut geht. Diese Mischung verschließt sozusagen die Membranen des Darms für den Alkohol, so dass dieser nicht ins Blut diffundieren [übergehen] kann. Deshalb kann ich fast unbegrenzt trinken, ohne betrunken zu werden. Der einzige Nachteil an der Sache ist, dass mir am nächsten Tag speiübel ist. Aber immer noch besser und lebensrettender, als betrunken zu sein."

"Und warum trinkst du dann den Alkohol?", wollte François wissen. Joanna seufzte, trank einen Schluck Tee, ehe sie antwortete.

"Du kennst meine Stellung innerhalb der Yakuza?"

"Gerüchteweise", antwortete er. Sie nickte.

"Ich erledige Aufgaben, die denen Seans oder Adams ähnlich sind. Jedoch auf meine Art. Ich bin zwar keine Söldnerin, das heißt ich arbeite ausschließlich für den Drachen, aber ich bin seine oberste Assassine. Ich besorge Informationen, Daten und mitunter auch wichtige Gegenstände. Und manchmal ist auch jemand auf die eine oder andere Weise aus dem Weg zu schaffen. Dazu gehört eben, dass ich mich zuweilen mit Leuten in ziemlich zwielichtigen Lokalitäten treffe oder auch den einen oder anderen quasi unter den Tisch saufen muss, um an meine Informationen zu kommen. Oder ....", sie überlegte einen Moment, wie sie es am besten ausdrücken sollte. "Oder um mit jemandem in flagranti ertappt zu werden. Deshalb hat Sensei Narahito diese Mixtur für mich entwickelt. Im Grunde hasse ich Alkohol." Sinnend starrte sie in ihre Teetasse. Ohne François anzusehen, fragte sie nach einer Weile:

"Wie gut kennst du dich in New York aus? Ich muss mich heute Nacht mit jemanden in einem Lokal namens Dragon Inn treffen."

Ehe er antworten konnte erklang ein Pfiff, der François aufhorchen ließ. Er antwortete pfeifend. Fragend sah ihn die junge Frau an.

"Adam wollte wissen wo ich bin. Am besten fragst du ihn, er kennt sich hervorragend hier aus." Augenblicke später klopfte es an der Tür.

"Komm rein", rief Joanna. Als die Tür aufging, erschien eine durchtrainierte, schlanke, weißblonde Gestalt im Rahmen.

"Ach, hier bist du, Doc. Was hat dich denn aus deiner Praxis gelockt?", fragte Adam.

"Ein sehr außergewöhnliches Rezept. Das dürfte dich auch interessieren." Kurz erklärte er ihm, was er von Joanna erfahren hatte.

"Hm, hört sich wirklich gut an. Obwohl ich nicht recht weiß, wer von unseren Leuten dafür Verwendung hätte, da hier eigentlich keiner Alkohol trinkt und den Vampiren macht der Alkohol nichts aus. Wenn sie denn überhaupt mal welchen trinken." Nach einem Blick auf die Uhr ging Joanna in die Küche und kehrt gleich darauf mit dem Zylinder und einer kleinen Spritze zurück.

"Glaub’ mir, Adam, ich reiße mich auch nicht darum, mich systematisch zu betrinken. Aber manchmal erfordert es mein Auftrag. Deshalb bin ich froh über diese Mixtur", sagte sie mit einem schiefen Grinsen zu dem Pokerspieler. Sie öffnete den Verschluss des Zylinders, zog geschickt die Spritze auf.

"Normalerweise mache ich das ja selber, aber wenn ich schon einen Fachmann da habe....." Bittend blickte sie den jungen Arzt an und hielt ihm die Spritze hin. Lächelnd nahm er die Spritze und den Alkoholtupfer, desinfizierte die dargebotene Ellenbeuge und injizierte Joanna das Mittel. Kaum hatte er die Nadel aus der Vene gezogen, krümmte sie sich keuchend zusammen, rutschte dabei vom Sofa. Hastig legte François die Spritze weg, half ihr wieder auf das Sofa und fühlte sofort nach ihrem Puls.

"Das..... das ist normal." keuchte sie und atmete einige Mal tief durch, ehe sie sich langsam entspannte. Der rasende Puls wurde wieder normal und auch die Farbe kehrte wieder in ihr Gesicht zurück. Kopfschüttelnd hatte Adam die Szene beobachtet. Joanna blickte ihn an, sagte dann:

"Ich weiß, die Rezeptur ist noch nicht ganz ausgereift. Sensei Narahito arbeitet mit Hochdruck an der Verbesserung. Aber auf jeden Fall ist es besser als Nichts." Nach dem sich ihr Körper wieder normalisiert hatte, stand sie mit einer fließenden Bewegung vom Sofa auf, sah die beiden Männer an, bevor sie sagte:

"Ich muss mich jetzt fertig machen. Vielleicht kannst du mir ja dann den Weg zum >Dragon Inn beschreiben, Adam." Auch François erhob sich, verabschiedete sich von den beiden und verließ grübelnd die Wohnung in Richtung seiner Praxis.

"Was hat er denn?", fragte Joanna, mit dem Kopf in Richtung Tür deutend, durch die eben der Arzt verschwunden war.

"Vermutlich brütet er schon über einer Verbesserung der Rezeptur nach. Was willst du eigentlich im Dragon Inn? Das ist eine ganz üble Spelunke."

Joanna ging ins Schlafzimmer und begann sich umzuziehen. Die Gegenwart Adams nicht weiter beachtend, zog sie sich aus, kramte aus ihrem Koffer eine extrem enge rote Bluse, die exakt den selben Farbton hatte wie ihr Haar. Dazu den Lederminirock und eine kurze schwarze Jacke. Missmutig warf sie alles auf das Bett. Dann drehte sie sich, nur in Slip und BH, zu Adam um, der ihr gefolgt war und nun mit verschränkten Armen in der Tür lehnte.

"Hm, wie soll ich sagen? Ich habe in Tokyo einen Auftrag verpatz, den ich nun ausbügeln muss, wenn ich nicht ein Fingerglied verlieren will. Der Drache wünschte, einen unliebsamen "Mitwisser" aus dem Weg zu haben. Leider war der Kerl zäher als ich vermutete und hat überlebt. Aber heute Nacht mach ich ihm den Gar aus. Darauf kannst du Gift nehmen", knurrte sie grimmig und begann, sich anzuziehen. Dann nahm sie einen in geheimnisvollem Rot schimmernden Lippenstift und schminkte sehr sorgfältig ihre Lippen. Adam runzelte kurz die Stirn, bevor er fragte:

"Ich habe schon einiges über deine Arbeitsmethoden gehört. Und diese Sache mit deiner geheimnisvollen Rezeptur klingt auch sehr interessant. Hättest du etwas dagegen, wenn ich dich begleite? Ich bleibe im Hintergrund und komme dir garantiert nicht in die Quere."

Joanna überlegte einen kurzen Augenblick, dann nickte sie.

"Klar, kein Problem." Als sie fertig angezogen war, drehte sie sich vor Adam und blickte ihn fragend an.

"Ich weiß, es sieht ein bisschen nuttig aus, aber zu jedem Auftrag das passende Outfit", grinste sie ihn an. "Von mir aus können wir los. Ich bin fertig."

Adam nickte, pfiff kurz durchs Haus, lauschte auf die Antwort. Er hob eine Braue und sah Joanna fragend an.

"Hast du was dagegen, wenn Sean auch mitkommt?"

Ein kurzes Glitzern huschte durch ihre Augen bei der Nennung des Namens. Stumm schüttelte sie den Kopf. Adam pfiff die Bestätigung und Augenblicke später klopfte es an der Tür. Joanna öffnete und grinste Sean an. Dieser betrachtete sie von oben bis unten, dann sah er fragend zu Adam hinüber.

"Über die Dächer oder durch die Straßen?" Adam seinerseits sah die Rothaarige an, sagte dann:

"Über die Dächer ist es schneller, aber kannst du in den Klamotten vernünftig laufen?" Zweifelnd betrachtete er den engen Rock und die hochhackigen Schuhe.

"Das lasst mal meine Sorge sein", entgegnete sie, zog die Schuhe aus, rafften den Rock hoch, so dass er beim Laufen und Klettern nicht störte. Mit einer katzenhaften, geschmeidigen Bewegung folgte sie den beiden Männer aus dem Fenster, die Feuerleiter hoch und über die Dächer. Sean und Adam liefen schnell, sprangen von Dach zu Dach, aber Joanna konnte mühelos ihr Tempo halten. Kurze Zeit später erreichten sie eine ziemlich heruntergekommene Gegend. Adam wies mit der Hand über den Rand des Daches, auf dem sie standen.

"Dort unten ist das Dragon Inn", sagte er leise. Joanna beugte sich über den Rand, sah sich lange und gründlich um, lief von einer Seite des Daches zur anderen, besah sich die Örtlichkeiten sehr genau, dann nickte sie und drehte sich zu den beiden um.

"Egal was passiert, mischt euch nicht ein. Das ist MEIN Auftrag und ich erledige ihn auf MEINE Art. Ist das klar?" Keine Gefühlsregung der beiden Männer, die nur kühl nickten.

Geschmeidig sprang die Rothaarige mit einem Salto, der dem Sprung die überschüssige Energie nahm, vom Dach in eine Seitengasse, landete federnd auf dem Boden. Bevor sie in ihre Schuhe schlüpfte, wischte sie kurz den Sand von den Füssen, dann zog sie den Minirock und die Bluse zurecht. Sie überlegte kurz, bevor sie noch einen weiteren Blusenknopf öffnete, so dass man einiges von ihrem schwarzen Spitzen-BH sehen konnte. Dann öffnete sie die Kette ihres Drachenmedaillons und ließ es in der Innentasche ihrer Jacke verschwinden, denn sie wollte sich nicht dadurch als Mitglied der Yakuza zu erkennen geben. Sie blickte noch einmal kurz zum Dach hoch, doch Adam und Sean waren nicht zu sehen. Joanna straffte sich und dachte: Na dann, auf in den Kampf. Und diesmal entkommst du mir nicht, Kento.



[1] El Silbo: Weltweit einzigartige Pfeifsprache der Gomeros. Sie besteht aus Pfiffen bestimmter Tonhöhen und –längen; gepfiffen wird mit ein oder zwei Fingern, die freie Hand dient als Schalltrichter. Alle Buchstaben des Alphabets können in Pfiffe umgesetzt werden. 1982 hat die UNO diese Pfeifsprache in die Liste der schützenswerten Kulturgüter aufgenommen. (Quelle: Extratour 5/2002 Magazin des Deutschen Jugendherbergswerk.)

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