Am Waldsee

Teil 9

Mit einem Nicken registrierte Sturmwind, dass das Mundfeuer Joran nicht so arg viel auszumachen schien und das stimmte ihn doch etwas glücklich. Jorans Satz widerlegte jedoch seine Feststellung, aber er würde die Hoffnung nicht aufgeben, denn wenn Joran und er Sommy wirklich fanden, dann musste Joran ans Mundfeuer gewöhnt sein, denn sicherlich aß auch die andere Hälfte des Stammes alles mit Mundfeuer.
"Ja, bei mir löst es nur eine angenehme Wärme aus und satt macht es alle mal."
Mit weit aufgerissenem Mund sah er Joran dabei zu, wie der das Herz des Rehs in kleine Teile schnitt und aß - völlig roh. Sturmwind schluckte heftig. Auch bei ihm im Stamm gab es Elfen die Innereien mochten, doch selbst die kochten oder brieten es vorher. Für Sturmwind waren Innereien noch nie was gewesen. Er schnitt ja sogar jede Sehne und jedes Stück Fett von seinem Fleisch.
"Sei mir nicht böse, aber das entspricht nicht meinem Geschmack."

'Bei dir löst dieses Mundfeuer eine angenehme Wärme aus und bei mir bist du es, der diese Wärme auslöst, Rabenhaar.', dachte Joran mit einem Anflug von Wehmut. Je länger er mit Sturmwind alleine zusammen war, je länger er den jungen Elfen in Ruhe und mit Muße betrachtete, um so mehr stieg sein Begehren nach ihm. Komischerweise hatte sich das zu erst starke körperliche Verlangen ein wenig gelegt und hatte mehr einem seelischen, einem geistigen Verlangen Platz gemacht, ohne jedoch sein körperliches Begehren ganz zu verdecken.
"Du willst wirklich nichts vom Herzen des Rehs?" Joran zuckte mit der Schulter und aß dann den Rest eben alleine auf. Mit einem gemeinen Lächeln fragte er dann: "Oder willst du lieber ein Stück von meinem Herzen haben?"

Sturmwind schüttelte den Kopf und lehnte dankend ab. Er würde nicht über seinen Schatten springen und Herz essen. Er verspürte nicht gerade Lust sich vor Joran übergeben zu müssen. Schon allein der Gedanke, etwas von dem Herz auf der Zunge zu haben, ließ in ihm ein mulmiges Gefühl aufsteigen.
Das Lächeln erstarb auf Sturmwinds Gesicht und machte Platz für aufgerissene Augen. Was hatte Joran gerade von sich gegeben? Ein Stück von seinem Herz? Gern, aber konnte Sturmwind das zugeben?
Der junge Elf senkte den Blick, schaute in die züngelnden Flammen des Lagerfeuers und dachte fieberhaft nach. Wie sollte er auf diese Fragen reagieren? Was konnte er dazu sagen, ohne das es peinlich endete. Wenn er verneinte, würde er lügen und Joran vor den Kopf schlagen, wenn er aber bejahte, dann warf er all seine Ideale weg und betrog sich und die Wünsche, die er hegte, bevor er auf Joran getroffen war.
"Was willst du hören?", hauchte Sturmwind leise und hoffte, dass das Prasseln des Feuers seine Stimme übertönte.

Die Frage, sehr leise gestellt, ging fast im Prasseln und Knacken des Feuers unter, doch die Ohren des Jägers hatten sie trotzdem vernommen. Ja, was wollte er hören? Er wusste es selbst nicht mehr. Vor ein paar Stunden noch hätte er gerne gehört, dass Sturmwind mit ihm schnurstracks in die Felle huschen wollte. Doch jetzt war er sich da nicht mehr so sicher. Klar, er begehrte diesen süßen, unschuldigen Jungen immer noch, doch noch etwas anderes hatte sich in ihm breitgemacht. War es das Verantwortungsgefühl für diesen Elfen, der so ganz ohne Eltern schon über einen Jahreswechsel durch die Gegend streifte? Oder..... nein, das konnte nicht sein! Nicht so schnell, er kannte ihn doch erst ein paar Stunden. Aber vielleicht war an den Legenden und Märchen seines Stammes doch ein Körnchen Wahrheit. Diese Märchen, die die alten Frauen am Feuer in den langen Nächten des weißen Todes erzählten, berichteten von Elfen und Elfinnen, die sich nur ein Mal in die Augen sahen und sofort in hilfloser Liebe für einander entbrannten.

Joran schüttelte den Kopf, um diese Hirngespinste zu vertreiben. 'Bleib realistisch, Flinkzunge. Der Junge ist so was von unschuldig, der kennt höchstens die Liebe seiner Eltern, aber nicht die Liebe der Erwachsenen und schon gar nicht die Art von Liebe, die dir jetzt durch den Sinn geht.'
Er rutschte näher an Sturmwind heran, hob mit einer Hand Sturmwinds Kinn an um ihm in die Augen blicken zu können, obwohl er wusste welch gefährliche Wirkung dies auf ihn hatte. "Ich will auf diese Frage eigentlich gar keine Antwort hören, denn es gibt darauf keine Antwort, die ein Mund geben könnte." Mit diesen Worten strich er leicht mit dem immer noch blutigen Daumen über Sturmwinds Lippen. "Die einzige Antwort die es geben kann, kommt von hier." Damit tippte er auf Sturmwinds Brust und hinterließ auch hier einen blutigen Fleck.

Sturmwinds Lippen prickelten. Unbewusst fuhr er sich die Oberlippe mit der Zunge nach und schmeckte das Blut. Gerade noch rechtzeitig konnte er ein Verziehen des Mundes verhindern. Joran könnte es vielleicht falsch verstehen. Der süße Bleigeschmack verursachte ein leichtes Unwohlsein in dem jungen Elf. Andere Stämme, andere Gewohnheiten, sinnierte er und nahm sich vor, mehr über die Gebräuche von Jorans Stamm in Erfahrung zubringen, damit er nicht von noch größeren Überraschungen eingeholt wurde.
Mit den Augen verfolgte er den Zeigefinger, der sich seiner Brust näherte und dort eine rote Spur hinterließ. Er widerstand dem Drang, sich den Fleck sofort wegzuwischen. Mit einem Grinsen dachte er, jetzt bin ich von ihm gezeichnet....
Ja, was sagte sein Herz? Es schlug unruhig unter seinen Knochen und das war gut so, sonst würde Joran es sehen. Sturmwind lauschte in sich und versuchte zu hören, was sein Herz rief.
"Mein Herz freut sich darüber, dass ich auf dich getroffen bin."

Joran verfolgte genau, wie Sturmwind auf das Blut auf seinen Lippen und auf seiner Brust reagierte und er sah auch, wie er sich beherrschen musste, um nicht angewidert den Mund zu verziehen. Innerlich grinste er. Ja, Blut war nicht jedermanns Geschmack. Aber Joran hatte ihn nicht vorsätzlich mit dem Blut beschmieren wollen, doch er hatte vollkommen vergessen, das seine Hände immer noch blutig vom Rehherzen war.
"Nun hast du doch die Kraft und die Schnelligkeit des Rehs in dir aufgenommen, mein schönes Rabenhaar", sagte er leise. Er betrachtete Sturmwinds Gesicht einen Moment im flackernden Schein des Feuers, ehe er fortfuhr: "Ja, mein Herz ist darüber auch sehr erfreut." Er versuchte eben dieses Herz ein wenig zu beruhigen, denn er hatte das Gefühl, ein wildgewordenes Baumflinkchen in seiner Brust zu haben und nicht ein Herz, so wild schlug es. Mit einem Lächeln sagte er dann: "Ich habe dich mit dem Blut vollgeschmiert, verzeih bitte, das wollte ich nicht. Sieh' nur, wir sehen aus wie die Schlammwühler." Er zeigte Sturmwind seine blutigen Hände und als er an sich hinabblickte, gewahrte er, dass auch auf seiner Brust einige Blutflecke zu sehen waren.
"Jetzt muss ich doch noch mal an den See, denn so kann ich ja wohl kaum in die Felle kriechen. Kommst du mit?"

Jorans Herz ist auch erfreut? Dann mag er mich anscheinend wirklich... In Sturmwind fand ein Gewitter statt. Bis jetzt war er davon ausgegangen, dass Joran in ihm nicht mehr sah, als einen Gefährten für ein Nacht, doch nun musste er seine Überlegungen in eine ganz andere Richtung lenken.
"Ja, nun habe ich wohl die Geschmeidigkeit des Rehs in mir." Eigentlich sollte es ein kleiner Scherz werden, doch irgendwie fand er es gar nicht witzig. Kurz biss er sich auf die Unterlippe. Wieso fiel es ihm so schwer in Jorans Nähe die passenden Worte zu finden? Er war noch nie wortgewandt gewesen, aber neben Joran, der ein Wortkünstler war, kam er sich noch plumper vor. Vielleicht konnte er von dem Elf lernen, wie er schlagfertiger wurde.
Die Idee von einem Bad im See fand Sturmwind gar nicht so schlecht. Aber war es gut, jetzt mit Joran ins Wasser zu steigen? Er würde den etwas kleineren Elf nochmals so sehen, wie zu dem Moment, als sie aufeinander trafen. Würde er den Anblick vertragen ohne rot zu werden? Joran würde auch ihn sehen...
Was, wenn Joran sich nicht mehr beherrschen konnte? Es war ja ganz offensichtlich, dass Joran viel mehr von Sturmwind wollte, als nur ein Gespräch.
Der junge Elf haderte mit sich und seinen Empfindungen. Er würde Joran beim Bad sicherlich näher kommen. Fühle er sich dafür schon bereit genug? Er wollte die Hände fühlen, auch die Lippen, aber das ging doch nicht.
Seine Stimme zitterte vor Nervosität, als er zustimmte: "Ja, ich könnte auch noch ein Bad vertragen. Ich mag es nicht, wenn meine Haare nach Rauch riechen. Ich kann dann nicht richtig schlafen und schreck immer hoch, da ich denke, unsere Hütte steht wieder in Flammen."
Sturmwind hielt erschrocken inne. Gerade hatte er Joran einen Blick in seine Vergangenheit gewährt.

"Hm, das wäre bestimmt ein unwiderstehlicher Geruchsmix: Der Duft von Schneesternen mit dem Aroma von geräuchertem Fleisch. Zwei Düfte, die ich für mein Leben gern habe", brummte Joran grinsend. Dann gingen ihm erst Sturmwinds Worte auf. "Eure Hütte ist mal abgebrannt? Ich dachte, deine Eltern wären bei einer Flut....." Er schlug sich die Hand vor den Mund. 'Flinkzunge, erst denken, dann reden!!', mahnte er sich in Gedanken. "Verzeih' bitte", sagte er leise, als er die Wehmut in Sturmwinds Augen aufflackern sah. Mit einer hilflosen Geste zog er den Jungen einfach an sich, um ihm tröstend unter der Weste über den Rücken zu streichen, darauf bedacht, ihm nicht auch noch die Kleidung mit seinen blutigen Händen zu verschmutzen.

"Meine Eltern kamen bei der Flut ums Leben", murmelte Sturmwind. "Seit dem suche ich ja meinen Bruder."
Er schmiegte sich an Joran, der ihn in die Arme schloss. Er spürte dessen warme Hände auf seinem Rücken und wünschte sich, dass es für immer so bleiben konnte.
Er versteckte sich regelrecht in Jorans Umarmung, als er leise erklärte: "Ich war 7 mal 12 Neumonde alt, als ich in der Nacht erwachte. Beißender Qualm drang mir in die Augen. Ich war vom Feuer eingeschlossen. Ich hörte meinen Vater nach mir rufen, der auf der anderen Seite der Feuerwand stand, war aber steif vor Angst. Ich konnte mich nicht rühren. Irgendwann begriff ich, dass ich sterben würde, wenn ich nicht etwas unternahm. Ich sprang einfach aus dem Fenster. Ein Blitz hatte unser Pfahlhaus in Brand gesetzt."
Sturmwind fuhr mit den Fingern durch Jorans Haar und löste sich von ihm.
"Lass uns zum See gehen!", bat er und stemmte sich hoch. Länger hätte er Jorans Nähe nicht ausgehalten. Alles in ihm kribbelte und er brauchte dringend eine Abkühlung.

Man nannte ihn zwar Flinkzunge, aber wenn es darum ging, tröstende Worte zu finden, war er stumm wie ein Stein. Er konnte nur mit Gesten trösten und das tat er, in dem er Sturmwind seine Nähe und seine Sicherheit spüren ließ.
Als der junge Elf sich von ihm löste, konnte er in dessen Gesicht sehen, wie sehr ihn die Erinnerungen an damals und vielleicht auch seine Nähe aufwühlte.
"Ja, lass uns schnell in den See hüpfen, bevor wir schlafen gehen. So ein Bad bei Vollmond ist was herrliches", sagte er und erhob sich ebenfalls.

Am Seeufer angekommen, blickte Joran kurz zum Himmel, stellte mit Freude fest, dass sich das Gewitter nun doch verzogen hatte und dafür einen blitzblank geputzten Sternenhimmel hinterlassen hatte, an dem der Vollmond groß und rund stand und den See geheimnisvoll glitzern ließ. Er griff nach dem Karfunkelstein an seinem Hals und dachte wieder an Ringg und wie viele Nächte sie einfach nur nebeneinander im Gras gelegen und den Himmel betrachtet hatten. Oft waren sie auch bei Vollmond schwimmen gegangen und er hatte es geliebt, wenn sich das Mondlicht auf dem nassen Körper des jungen Elfen gespiegelt hatte.
Ein Geräusch hinter sich ließ ihn in die Wirklichkeit zurückkehren. Er drehte sich um und sah Sturmwind an. Wieder einmal stellte er fest, dass der junge Schattenwaldelf seinem früheren Geliebten so sehr glich, dass es schon fast weh tat.

Sturmwind schaute verträumt zum Himmel hinauf. Beide Monde strahlten so hell wie schon lange nicht mehr. Es fasziniert mich immer wieder aufs Neue, wenn ich so weit schauen kann. Kein Dschungel um mich herum, mit seinen riesigen Bäumen, die die Sicht einschränken. Ein kurzer Blick auf Joran. Auch dieser schien gerade in den nächtlichen Himmel zu entfliehen.
Sturmwind suchte sich einen Felsen, berührte ihn mit der Hand und nickte. Der Stein strahlte noch die Wärme des Tages aus. Wenn er seine Kleidung darauf ablegte, war sie nachher schön warm, denn sicherlich würde er nach dem Bad leicht frösteln. Auch wenn es am Tag heiß gewesen war, die Nächte hier waren kühler, als die im Nachtschattenwald.
Er streifte seine Weste ab, die Schuhe und zog die Hosen über die Hüften. Sollte er mit dem Lendenschurz ins Wasser?

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