Am Waldsee

Teil 40

Er lief zuerst in die Richtung, in der Sturmwind verschwunden war. Sehr weit würde der junge Elf mit seiner rutschenden Hose wohl nicht gekommen sein und der Bergwald war hier auch nicht so dicht, dass er sich besonderst gut verstecken konnte. Plötzlich sah er den Reflex der Sonne auf schwarzem Haar. Er hatte Sturmwind gefunden. Leise trat er neben ihn, ging in die Hocke und strich ihm liebevoll mit den Fingern durchs Haar. "Schneestern, warum bist du weggelaufen?", fragte er ohne Groll, aber mit deutlicher Sorge in der Stimme.

Sturmwind schaute Joran an, konnte ihm aber nicht in die grünen Augen blicken. Kein Wort drang über seine Lippen, die er fest zusammenpresste. Er konnte Joran doch nicht sagen, dass er wirklich wütend gewesen war und sich dazu noch selbst verfluchte.

"Kommst du wieder zurück ins Lager? Bitte."

Sturmwind nickte. Joran hatte ihm soeben eine große Last genommen. Er hatte die ganze Zeit überlegt, wie er wieder umkehren konnte, ohne das er sich selbst verriet. Es hätte zu blöd ausgesehen, wenn er erst wegliefe und dann reumütig zurückkehrte.
Vorsichtig stemmte der junge Elf sich hoch und ging los. Er sah sich nicht nach Joran um. Der blonde Elf würde ihm schon nachlaufen.

Er blickte Sturmwind nach, als er in Richtung Lager ging und folgte ihm stumm. Am Lagerfeuer hatte er ihn eingeholt, hielt ihn sanft an der Schulter zurück und drehte ihn in seine Richtung. "Warum?", fragte er leise, als er ihm in die Augen sehen konnte.

"Ich weiß es nicht", antwortete Sturmwind und wich dem Blick aus den grünen Augen aus. Konnte er Joran sagen, wie er sich fühlte? Wie würde der Elf reagieren?
Tief in dem jungen Elf wuchs das schlechte Gewissen heran. Er hatte Joran mit seinem Verhalten weh getan, das wusste er, doch er würde dieses Wissen nicht zugeben. Er musste selbst erst mal mit der Situation, in der er sich befand, zurechtkommen.

Joran strich ihm beruhigend über die Schultern und Arme. "Ich mache mir wirklich Sorgen um dich, Schneestern. Ich habe Angst um deinen Kopf, deshalb wollte ich dich zwingen, dass du liegen bleibst. Bitte hör auf mich. Ich bin zwar kein Schamane, aber ich habe einige Erfahrungen, was solche Verletzungen angeht." Er hob Sturmwinds Kinn mit zwei Fingern an und zwang ihn so, ihm in die Augen zu sehen. **Ich liebe dich doch, Schneestern.** Mit einem ganz zarten, kurzen Kuss besiegelte er diese Worte. "Und jetzt legst du dich bitte wieder hin."

Ein Zittern lief durch Sturmwinds Körper, als er Jorans Lippen spürte. Er sah ihn einfach nur stumm an. Was konnte er sagen? Was tun? Er schämte sich so sehr für sein Verhalten und verzog sich so einfach auf das Schlaflager. Er zog das Fell über sich und schloss die Augen. "Tut mir leid", murmelte er.

Joran kam hinter ihm her und setzte sich neben Sturmwind. Sanft streichelte er über dessen Schultern. "Es muss dir nicht leid tun. Vielleicht habe ich auch überreagiert. Ich mache mir nun mal wirklich Sorgen." Dann stand er auf und bereitete einen Teil des Ziegenfleisches zu.

"Du hast so heftig reagiert und das nur, weil ich gesessen und nicht gelegen habe", murmelte Sturmwind. Erst wollte er sich von den streichelnden Händen zurückziehen, doch dann ließ er es bleiben. Es war viel zu schön, um es nicht zu spüren. "Ich..." Er verstummte. Es gelang ihm einfach nicht über seine Selbstzweifel zu reden.

Ohne sich umzudrehen antwortete Joran, weiter am Feuer hantierend: "Mit deinem angestoßenen Kopf solltest du liegen, wirklich stramm liegen, Schneestern, sonst wird das nie was. Das hat nichts mit Mut oder Ich kann die paar Schmerzen schon aushalten zu tun. Das ist einfach leichtsinnig." Er drehte sich wieder zu Sturmwind um, hielt ihm eine Schale mit gebratenem Fleisch hin. "Hier, iss ein bisschen, damit die wieder auf die Beine kommst."

"Ich hätte mich vorhin schon wieder von allein hingelegt. Ich hab doch nur auf dich gewartet und du tust nichts anderes, als mir Vorschriften zu machen." Sturmwind schüttelte leicht den Kopf, als Joran ihm das Essen hinhielt. "Ich mag jetzt kein Fleisch." Er griff nach dem Wasserschlauch, entkorkte ihn und trank in großen Schlucken. Seine Kehle war wie ausgedörrt und der Durst langsam unerträglich. "Kochst du mir stattdessen bitte ein paar Erdäpfel!", bat er, nachdem er den Schlauch wieder weggelegt hatte. "Und tu bitte ganz viel Kräuter dran, für den Geschmack!"

Joran nickte und machte sich daran, die Erdäpfel für Sturmwind zu kochen. Während der Kessel leise auf dem Feuer brodelte, setze sich Joran wieder neben Sturmwind. "Klingt es so, als wenn ich dir Vorschriften mache?", fragte er betroffen.

"Vorhin - ja. Ich hab mich ungerecht behandelt gefühlt." Langsam öffnete Sturmwind wieder die Augen und sah zu Joran. "Ich bin von der Situation etwas überfordert", gestand er nun endlich.

"Ungerecht behandelt?" Joran verstand nicht so recht. "Und welche Situation überfordert dich? Ich verstehe immer nur Trollmist." Er war nun wirklich vollends verwirrt. Wortlos stand er auf und holte für Sturmwind die Erdäpfel, die er kräftig mit den getrockneten Kräutern gewürzt hatte.

"Du hast mich wie ein kleines Kind behandelt", erklärte Sturmwind. "Ich hab mich dabei nicht gerade wohl gefühlt. Du hast mich völlig überraschend anders behandelt als sonst." Mit einem Nicken nahm er Joran die Erdäpfel ab und schälte eine der Knollen.

"Du hast dich ja auch unvernünftig wie ein kleines Kind benommen", antwortete Joran ernst. "Glaubst du, ich habe dich aus Langeweile angeschrieen? Ich weiß schon, was ich tue. Zwar bin ich kein großer Schamane, aber trotzdem habe ich bei meiner Mutter und bei Kalil genug über Kräuter und Krankheiten gelernt, um zu wissen, was bei einer Gehirnerschütterung zu tun ist. Und du hast genau das Gegenteil getan." Joran starrte ins Feuer und überlegte, wie er Sturmwind seine Sorge um ihn noch deutlicher machen konnte.

"Ich war nicht aufgestanden, habe nur hier gesessen und auf dich gewartet...", verteidigte Sturmwind sich weiter. "Und wenn du denkst, ich bleib den ganzen Tag liegen, dann liegst du falsch, aber um dich zu beruhigen, ich werde keine großen Ausflüge machen, sondern mir nur mal die Beine vertreten." Sturmwind biss von dem fertig geschälten Erdapfel ab.

Joran wartete einen Moment bis Sturmwind seine Mahlzeit beendet hatte, dann drückte er ihn wieder auf das Fell, hockte sich über ihn und funkelte ihn wütend an. "Wie unvernünftig kann ein einzelner Elf nur sein? Ich habe dir gesagt, du sollst liegen bleiben, bis dein Kopf wieder ausgeheilt ist und wenn das nicht klappt, dann werde ich dich hier auf deinem Schlaffell fesseln, so wahr ich Joran Flinkzunge heiße. Und das ist bestimmt keine leere Drohung, mein Lieber. Das meine ich sehr, sehr ernst." Der Nordland-Elf war nun echt mehr als wütend, dass Sturmwind seine Erfahrung als Kräuterkundiger so in Zweifel stellte und auch so unvernünftig war, dass er sogar seine Gesundheit dadurch gefährdete.

"Verdammt Joran!", fuhr Sturmwind den blonden Elf an. "Ich bin nicht todsterbend krank. Ich hab nur Kopfschmerzen und einen gebrochenen Arm und wenn du dich weiter wie ein Vater aufführst, dann zieh ich alleine weiter..." Am liebsten hätte der junge Elf seine Arme verschränkt und fluchte innerlich, als dies nicht ging. "Weißt du was, lass mich einfach in Ruhe!", knurrte er. In ihm brodelte ein Vulkan. Zum ersten Mal kamen ihm Zweifel, ob er sich richtig entschieden hatte, indem er sich auf den Nordland-Elf eingelassen hatte.

"Ach ja, ich benehme mich wie dein Vater? Der hätte dir wahrscheinlich den Hintern versohlt bei so viel Unvernunft", schimpfte Joran. "Warum hast du wohl Kopfschmerzen? Weil du dir ein bisschen den Kopf angestoßen hast? Nein, du hast eine mittelprächtige Gehirnerschütterung, etwas, mit dem man nicht spaßt. Aber wenn du der Meinung bist, dass du ohne mich besser auskommst, dann zieh doch allein weiter." Joran kochte mittlerweile vor Wut. Er schnappte sich seine Schlaffelle und stapfte zornbebend auf die andere Seite des Lagerfeuers. Bewusst drehte er Sturmwind den Rücken zu, legte sich hin und versuchte zu schlafen.

"Ich habe nicht gesagt, wie mein Vater, sondern wie ein Vater", schrie Sturmwind. "Es ist nicht meine erste Gehirnerschütterung und damals ging es mir um einiges schlechter und trotzdem hat mein Vater es zugelassen, dass ich immer mal durchs Dorf gehen konnte. Er hat mich nicht angeschrieen, nur weil ich mal aufrecht saß." Sturmwind wollte sich von Joran wegdrehen, doch dafür musste er sich erst mal um die eigene Achse drehen. Er zog das Fell ganz eng um sich, schlang die Arme um das andere und starrte vor sich auf die wenigen Grasbüschel.
Mit einem Mal schlug die Trauer wieder über ihm zusammen. Tränen rannen seine Wangen hinab, als er seine Mutter und seinen Vater vor dem inneren Auge sah. Er sehnte sich nach der Umarmung seiner Mutter und nach den aufmunternden Worten seines Vaters, der nie ein Drama aus Sturmwinds Verletzungen gemacht hatte.

"Ja toll", grollte Joran. "Immerhin bin ich der Ältere von uns beiden und fühle mich für dich verantwortlich. Aber da du ja alles besser weißt, dann macht doch was du willst!" Joran hatte sich nicht zu Sturmwind umgedreht, wohl aber laut genug gesprochen, damit Sturmwind ihn hören konnte. Leise vor sich hinfluchend versuchte er Schlaf zu finden. Ihm taten seine harschen Worte schon wieder leid, doch entsprangen sie seiner Sorge um den Jüngeren. Er fühlte sich wirklich für Sturmwind verantwortlich und hätte es nie vor seinem Gewissen rechtfertigen können, sollte Sturmwind etwas geschehen, wenn er trotz allem aufstand. Nach einer Weile tat ihm die Schulter und die Hüfte vom Liegen bereits weh, aber er wagte es nicht, sich auf die andere Seite zu drehen, denn dann hätte er in Sturmwinds Richtung sehen müssen. Und er verspürte Sehnsucht – Sehnsucht nach Sturmwind. Das erste Mal seit über drei Mondumläufen schlief er allein in seinen Fellen. Ohne die Wärme und Nähe des anderen, ohne den geliebten Körper an seinem zu spüren, ohne Sturmwinds Herzschlag zu fühlen. /Nein, wenn er meint, ich bevormunde ihn, dann werde ich ihn bestimmt auch nicht mit meiner Nähe 'bevormunden'./ Irgendwann fiel er in einen unruhigen Schlaf, aus dem er immer wieder mit einer unendlichen Leere in sich erwachte.

Sturmwind war nicht mehr in der Lage auf Jorans Worte einzugehen. Unaufhaltsam rannen Tränen über seine Wangen und irgendwann konnte er das Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Er spürte die Schmerzen seines geschundenen Körpers nicht mehr, denn die Trauer überwog und auch der Gedanke, dass Joran sich tatsächlich von ihm abgewandt hatte. Wieso verstand Joran nicht, dass er nicht in der Lage war, die ganze Zeit still zu liegen? Was war denn schon dabei, wenn er ab und zu mal einen kleine Runde ging und sich danach wieder hinlegte?
Irgendwann schienen seine Tränen alle zu sein, denn sie versiegten. Vorsichtig erhob er sich, nahm seine Felle an sich und legte sie näher ans Feuer. Er fror schon wieder und das gefiel ihm gar nicht. Vorsichtig legte er sich wieder hin, kuschelte sich in sein Schlaflager und schaute zu Joran, der tief und fest zu schlafen schien, aber vielleicht tat der Nordland-Elf auch nur so, damit er sich nicht weiter mit ihm auseinandersetzen musste.

Die Nacht erschien Joran unendlich lang zu sein. Unruhig wälzte er sich auf seinem Lager hin und her, suchte im Schlaf immer wieder nach Sturmwind, nur um im Aufwachen festzustellen, dass er allein unter seinen Fellen lag.
Endlich kämpfte sich die Sonne durch den Dunst des Morgens und erwärmte zögernd ihr Lager. Zerschlagen, mit schmerzenden Knochen, erhob sich Joran und schürte das Feuer nach seinen morgendlichen Erledigungen neu. Dann trat er neben Sturmwinds Felle um ihn zu wecken. Erstaunt stellte er fest, dass der Dschungelelf in der Nacht näher ans Feuer gerückt war. /Ja, Schneestern, ich habe heute Nacht auch gefroren/, grinste er in sich hinein, streckte die Hand aus, um Sturmwind wachzurütteln. Als er den Jungen berührte, zog er erschrocken die Hand zurück, denn er glaubte zu verbrennen. Sturmwind glühte vor Fieber.

Immer wieder erwachte Sturmwind, wenn Schmerzen durch seinen Arm zuckten. Er schlief so unruhig, dass er sich immer wieder hin und her wälzte und dabei belastete er ständig seinen gebrochenen Arm. Sein Blick glitt, sobald er die Augen offen hatte, zu Joran, doch in der Dunkelheit erkannte er nichts weiter, als die Umrisse eines schlafenden Körpers. Irgendwann übermannte ihn ein fast komatöser Schlaf.

Sturmwind seufzte. Tränen liefen ihm über die Wangen, ohne dass er es bemerkte. Ein Alptraum hielt den jungen Elf gefangen. Er sah seine Eltern im Wasser und dann erkannte er Joran, der mit der Schulter zuckend einfach ging. "Nein, bleib! Bitte!", schluchzte Sturmwind auf und rollte sich auf den Rücken, ohne jedoch munter zu werden.

Sturmwind schien in einem Fiebertraum gefangen zu sein, denn Joran glaubte so etwas wie "Nein, bleib! Bitte!" gehört zu haben. Sanft rüttelte er Sturmwind, um ihn endgültig zu wecken. "Schneestern, wach auf, du träumst!" Er legte ihm die Hand auf die Stirn und erschrak erneut über die Hitze, die dem Körper entströmte. "Siehst du, jetzt ist doch das geschehen, was ich befürchtet habe", murmelte Joran vor sich hin und sah sich nach seinen Sachen um. Wo hatte er nur seinen Beutel mit den Kräutern hingetan? Endlich gefunden, begann er schnell, aber ohne Hektik, darin zu suchen, bis er das richtige Beutelchen mit der Weidenrinde gefunden hatte. Ob er Sturmwind einige Augenblicke allein lassen konnte um frisches Wasser zu holen? Er entschied, dass er es riskieren konnte und lief los zum Bach, füllte alle drei Wasserschläuche und auch den kleinen Kessel mit dem klaren Nass.
Ins Lager zurückgekehrt, setzte er den Kessel aufs Feuer und warf eine Hand voll Weidenrinde hinein. Leise fluchte er vor sich hin, denn dieser Absud musste sehr lange Zeit kochen um wirksam zu sein. Bis dahin konnte Joran nichts weiter tun, als Sturmwinds Körper von außen zu kühlen, denn die Bekämpfung des Fiebers von innen musste noch eine Weile warten. Immer wieder rieb er den glühenden Körper mit den kühlen, feuchten Tüchern ab, wickelte ihn anschließend wieder in das Gelbstreifen-Fell, damit Sturmwind nicht noch zu allem Überfluss eine Erkältung oder gar Lungenentzündung bekam.

Es fiel ihm so unsagbar schwer seine Augen zu öffnen. Die Lider waren so schwer, doch dann hoben sie sich. Sturmwinds Blick war getrübt. Er erkannte den Elf neben sich. Joran machte irgendwas am Feuer. Sturmwind war jedoch nicht im Stande herauszufinden was es war. Leise seufzend schloss er wieder die Augen. Sein Körper glühte, brannte von inner heraus und ihm wurde klar, dass sich wohl eine Wunde entzündet haben musste. Ihm war klar, dass Joran ihm jetzt Vorhaltungen machen würde und so krächzte er: "Das Fieber wäre so oder so gekommen, ob ich liegen geblieben wäre oder nicht." Trocken hustete er. "Mein Rücken brennt wie Feuer. Die Wunde muss sich entzündet haben."

Durch das Husten aufgeschreckt wendete sich Joran vom Feuer und dem Weidenrinden-Sud ab und zu Sturmwind um. "Hallo Schneestern, du bist ja endlich wach." Der Nordland-Elf lächelte Sturmwind warm an, half ihm, sich aufzurichten und hielt ihm einen der Wasserschläuche an den Mund. "Du musst jetzt viel trinken, damit das Fieber dich nicht verbrennt. Der Weidenrinden-Sud wird noch eine Weile brauchen, bis er fertig ist." Bewusst ging er nicht auf Sturmwinds Einwände ein, denn das die Wunde sich entzündet hatte, lag wirklich nicht daran, dass der junge Elf die verordnete Ruhe nicht eingehalten hatte.
Aber Joran machte sich selber Vorwürfe, dass er die Gefährlichkeit und die Tiefe der Schürfwunde auf Sturmwinds Rücken so unterschätzt hatte. Wahrscheinlich waren bei dem Sturz Fasern von Sturmwinds Fellweste oder von Jorans Wollmantel in die Wunde eingedrungen und hatten nun die Entzündung hervorgerufen. Vorsichtig beugte er den Jungen nach vorn, so dass er die Wunde begutachten konnte. Tiefrot zog sich ein knapp handbreiter Streifen quer über die braune Haut. Joran holte tief Luft, ehe er Sturmwind sanft zurück auf das Fell gleiten ließ.

Sturmwind wunderte sich, dass Joran nichts gegen seinen Einwand sagte, dachte aber nicht weiter darüber nach. Er ergab sich Joran, als dieser ihm beim Aufrichten half und war froh, als er sich wieder hinlegen konnte. Das Fieber schwächte ihn viel zu sehr, als dass er etwas aus eigener Kraft tun konnte. "Wasser", murmelte er leise.

Er reichte ihm einen Wasserschlauch, aus dem Sturmwind auch im Liegen trinken konnte, ohne sich voll zu kleckern. Dann legte er ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn und prüfte bei der Gelegenheit auch gleich noch den Puls. Sturmwinds Herz raste, doch trotz des erhöhten Herzschlags war der Puls flach und schwer zu ertasten. Jorans Miene wurde immer düsterer. Wenn er nicht schnellstens das Fieber zum Sinken brachte, stand es schlecht um den Dschungelelfen. Aber die Bekämpfung des Fiebers allein reichte nicht aus, es musste auch die Ursache bekämpft werden und die zog sich rot und entzündet quer über Sturmwinds Rücken. Schnelles und radikales Handeln war jetzt gefragt. Joran blickte zum Feuer, dann wieder auf Sturmwind, der schon wieder halb in einem fiebrigen Schlaf gefallen war.
"Sturmwind?", sprach er ihn leise an.

Sturmwind fiel das Schlucken schwer, trotzdem trank er gierig weiter, bis der Schlauch bis auf eine kleine Neige geleert war. Das Fieber zog ihn schon wieder in einen Zustand des Schlafes. Nur leise hörte er, wie Joran ihn ansprach. **Ja?** Der junge Elf verlegte sich aufs Senden. Das fiel ihm um einiges leichter als zu reden.

"Ich muss dich für eine kurze Zeit allein lassen. Hier neben dem Fell liegen noch zwei Wasserschläuche. Trink soviel du kannst und bleib einfach liegen. Ich muss einige Kräuter suchen, mit denen ich die Entzündung bekämpfen kann, denn sie müssen frisch gesammelt werden, deshalb habe ich davon auch keine dabei. Wenn was ist, dann ruf oder sende, ich versuche, in der Nähe zu bleiben." Er hauchte einen Kuss auf die fieberfeuchte Stirn und verließ den Felsüberhang, nicht ohne sich noch einmal nach Sturmwind umgedreht zu haben.

**Geh nicht zu weit weg**, bat Sturmwind, den Kuss kaum wahrnehmend. Sein Körper wurde vom Fieber geschüttelt und so blieb er liegen. Fest zog er das Fell um sich, als Joran leise verschwand.

Der Nordland-Elf lief schnell, suchte nach sonnigen Wegen und wieder mal waren die Hohen mit ihm. Keine zweihundert Schritte vom Lager entfernt entdeckte er auf einer sandigen und sonnenbeschienen Stelle viele dunkelgrüne, eiförmige Blätter auf kurzen, dicklichen Stielen, die in einer Rosette zusammenstanden (Breitwegerich). "Danke, Ihr Hohen und Geister, dass Ihr mich so schnell habt Entzündungsblätter finden lassen", stieß Joran hervor. Geschwind hatte er einen Vorrat gesammelt und eilte zum Lager zurück. Er griff sich die Wasserschläuche, hastete zum Bach um sie erneut zu füllen, dann kehrte er zu Sturmwind zurück. Sanft strich er ihm mit einem feuchten Tuch über das Gesicht. "Sturmwind, werde mal wach, damit du den Rindensud trinken kannst."

Langsam öffnete Sturmwind die Augen, sah Joran an und richtete sich langsam auf. Joran hielt ihm eine Schale an die Lippen und er trank davon. Er verschluckte sich an dem heißen Sud und würgte leicht, doch dann trank er weiter, bis die Schale leer war. Seufzend ließ er sich wieder zurückfallen. **Ist gegen Fiber, oder?**, erkundigte er sich. 

"Ja", antwortete Joran einsilbig und machte sich daran, die gesammelten Blätter zu zerstampfen. Als er damit fertig war, suchte er auch seinem Beutel das Stück Leder hervor, das er Sturmwind schon einmal zwischen die Zähne geschoben hatte. Deutlich waren darauf die Abdrücke der Zähne zu erkennen, zu denen sich nun garantiert erneut welche gesellen würden und die würden diesmal um einiges tiefer sein. Langsam ging er neben Sturmwind in die Hocke. "Schneestern, ich habe dir mal versprochen, dir nie weh zu tun, aber dieses Versprechen muss ich nun brechen", sagte er leise und betrübt.

**Was hast du vor?** Sturmwinds Senden hatte nicht mehr die Kraft wie am gestrigen Abend. Er spürte, wie etwa unbekanntes nach ihm greifen wollte und er kämpfte mit aller Macht dagegen an. Er durfte nicht jetzt gehen, nicht jetzt, wo er auf Joran getroffen war, nicht jetzt, wo er zum ersten Mal verliebt war.

Hart schluckte Joran die aufsteigenden Tränen hinunter. "Ich werde die Wunde auf deinem Rücken aufschneiden müssen, um sie ausbluten zu lassen. Nur so bekomme ich den größten Teil dessen raus, was die Entzündung verursacht." Behutsam richtete er Sturmwind auf und ließ ihn sich nach vorn beugen. Der Kloß in seinem Hals wollte ihm schier die Luft rauben. Er war gerade im Begriff, dem Liebsten, was er hatte, bewusst Schmerzen zuzufügen. Stumm hielt er Sturmwind das Lederstück hin und zog seinen Dolch.

"Was?" Sturmwind fuhr hoch. Woher er die Kraft nahm, konnte er sich nicht erklären. Auf alle Fälle war in seinem Kopf plötzlich alles klar. Er sah Joran an und konnte nicht verhindern, dass Panik in seinen Augen glomm.

Heiße Tränen traten in Jorans Augen. "Ich weiß mir keinen anderen Rat, Schneestern", flüsterte er. "Je schneller die Entzündung aus deinem Körper heraus ist, umso schneller wird auch das Fieber sinken. Ich kann das Fieber nicht bekämpfen, ohne die Ursache zu beseitigen." Er sah Sturmwind fest in die Augen.

Pfeifend verließ Luft Sturmwinds Lunge, als er sich zurückfallen ließ. "Das wird eine riesige Narbe", murmelte er und rollte sich zitternd auf den Bauch, nachdem er die Schlaufe, die seinen Arm hielt, entfernt hatte. Er konnte ja schlecht auf dem gebrochenen Knochen liegen und so drehte er die Schulter so, dass sein Arm angewinkelt neben seinem Kopf lag. "Und ich kann mich nicht mal mit beiden Händen irgendwo festhalten."
Mit der Hand des gesunden Armes suchte er Halt in dem Fell. Er schloss die Augen und murmelte: "Es wäre nur gerecht, wenn du mir jetzt einen Schlag auf den Kopf verpasst, dass ich davon nichts mitbekomme." Tief holte der junge Elf noch mal Luft.

"Damit du noch länger liegen bleiben kannst?", versuchte Joran einen Scherz. Nochmals hielt er Sturmwind stumm das Leder zum Draufbeißen hin. Was Sturmwind nicht wusste, war die Tatsache, dass der Dolch, den Joran besaß, aus einem unbekannten Metall von Trollen geschmiedet worden war und auf geheimnisvolle Weise stets extrem scharf blieb. Wenn er schnell und zügig schnitt, sollte der Schmerz sich wohl in Grenzen halten.

Sturmwind nahm das Leder an sich, klemmte es sich zwischen die Zähne und hielt die Luft an. **Bring es hinter uns!**, sendete er eindringlich. Noch mal suchte er Halt in dem Fell unter sich, dann bereitete er sich auf den brennenden Schmerz vor.

Langsam senkte Joran die Spitze seines Dolches auf die Wunde nieder, hob ihn jedoch sofort wieder an, da seine Hand so stark zitterte. Angewidert warf er ihn weg und sank schluchzend zusammen. "Ich kann es nicht, Sturmwind. Ich kann dir nicht weh tun, verzeih mir." Damit stand er auf verschwand im Unterholz.

weiter zu Teil 41

zurück zum Geschichtenindex