III

WOLFSREITER

I

"Du kannst in meinem Nest im Baum schlafen." sagte Himmelweis und wies auf einen riesigen Baum, der am Rande der kleinen Lichtung stand.

"Ihr lebt in Nestern?" fragte Silbermond erstaunt.

"Na ja, nicht in Nestern wie sie die Vögel bauen. Rotspeer, unser Baumformer, hat Höhlen im Baum entstehen lassen. Auch hat er unser Lager mit Würgegras geschützt." antwortete Himmelweis. Sie kletterten auf den Baum und krabbelten in eine Höhle, die gemütlich mit Fellen verschiedener Tiere ausgepolstert war. "Und Mondsänger?" fragte Silbermond. "Sternspringer wird ihm schon zeigen, wo er sich ausruhen kann." Nun, da sie wusste, dass ihr Wolf versorgt war, streckte sie sich in die weichen Felle und war fast augenblicklich eingeschlafen. Himmelweis betrachtete sie eine Weile nachdenklich, bevor der Schlaf auch von ihm seinen Tribut forderte.

II

Am Abend wurde Silbermond von einem Luftzug geweckt. Himmelweis pustete ihr sanft ins Ohr. "Hallo Langschläferin." sagte er und küsste sie zärtlich auf die Stirn. "Die Anderen sind schon unten am Feuer und warten ungeduldig auf uns. Sie wollen wissen, was mir auf meiner Suche widerfahren ist und sie wollen auch deine Geschichte hören." Flink kletterten sie den Baum hinunter und gesellten sich zu den anderen Elfen. Der rothaarige Elf, der ihnen bei ihrer Ankunft den Weg mit der Lanze verwehrt hatte, erzählte gerade eine lustige Geschichte. So hatte Silbermond Gelegenheit, sich die Wolfsreiter genauer anzusehen. Den Anführer, Schnitter, kannte sie ja schon. Neben ihm saß eine Elfe mit leuchtend-grünen Augen. Sie schien seine Gefährtin zu sein, denn er hatte liebevoll den einen Arm um sie gelegt. Den anderen hatte er um die Schulter einer kleinen Elfe mit feuerroten Haaren gelegt, die allem Anschein nach seine Tochter war. Auf der anderen Seite der grünäugigen Elfe sah Silbermond einen Jungen mit blonden Haaren. "Wer ist die Elfe neben Schnitter?" fragte Silbermond.

"Das ist Leetah, unsere Heilerin." flüsterte Himmelweis. "Sie ist Schnitters Gefährtin. Die kleine feuerhaarige Göre ist Fünkchen, seine Tochter, unsere zukünftige Anführerin. Sie hat das Zeug dazu. Wild und ungestüm wie ihr Großvater Bärenklaue. Aber auch zu Veränderungen bereit wie ihr Vater. Und der Blondschopf auf der anderen Seite ist Sonnenstrahl. Er kann über große Entfernung mit Savah im Sonnendorf senden und Visionen empfangen." erklärte Himmelweis. "Den Erzähler kennst du ja schon. Das ist Werfer. Er liebt Traumbeeren und sammelt unsere Träume. Skot und Krim leben mit ihm zusammen. Das Paar auf der anderen Seite des Feuers sind Langbogen und Mondschatten. Langbogen redet nicht viel. Er sendet meistens nur. Mondschatten ist unsere Gerberin. Sie näht auch unsere Kleidung. Das verliebte Paar daneben sind Rotspeer, unser Baumformer und seine Gefährtin Abendrot. Sie ist eine unserer besten Kriegerinnen. Genau wie Reinwasser, die silberhaarige Elfe daneben. Sie hat, ebenso wie du, vor einiger Zeit ihren Gefährten Einauge verloren. Aber Baumstumpf, der Hüne daneben, konnte sie darüber hinwegtrösten. Nun sind sie ein Paar. Ihr Sohn Späher und seine Tochter Tauglanz sitzen da drüben neben den beiden Schnee-Elfen Skot und Krim. Und das fliegende Bürschchen darüber ist Windkind, Tauglanz' Sohn. So, jetzt kennst du unseren Stamm." endete Himmelweis. Auch Werfer war mit seiner Geschichte zu Ende. Nun wandte sich Schnitter an Silbermond. "Nochmals willkommen bei den Wolfsreitern. Erzähl' uns von dir." forderte er sie auf. Silbermond berichtete wie schon vor Tagen Himmelweis, von sich, ihrem Stamm und dem Überfall auf das Lager der Waldelfen. Auch ihre Suche nach anderen Elfen ließ sie nicht aus. Nur das Erkennen Himmelweis' erwähnte sie nicht. "Du bist Heilerin?" fragte Leetah.

"Ja. Aber ich wende meine Kräfte nur an, wenn ich nicht mit meinen Kräutern heilen kann, oder wenn es sich um eine unbekannte Krankheit handelt. Aber auch alle meine Kräfte konnten Sternenschnee nicht retten. Du siehst also, meine Kunst ist begrenzt." sagte Silbermond.

"Und du, Himmelweis?" fragte Schnitter. "Was ist aus deiner Suche geworden? Hast du diesen Wald und den Felsen gefunden?"

"Nein, aber ich denke, ich weiß nun, dass es sich dabei um Silbermonds Wald und den Mondfelsen handelt." gestand Himmelweis etwas verlegen. "Denn meine Träume haben aufgehört." Leetah lächelte erleichtert. "Ich hatte mir schon Sorgen um Himmelweis gemacht. Er war zeitweise nur ein halber Elf." flüsterte sie in Silbermonds Richtung. Ein leuchtendgrüner Blick bohrte sich in nachtblaue Augen. Silbermond hielt dieser Prüfung stand. Leetahs Augen weiteten sich und sie sprach: "Ihr habt euch erkannt, nicht wahr?"

Silbermond senkte den Blick.

"Ja."

"Oh Silbermond. Wie schön. Auch wenn du erst vor kurzer Zeit deinen Gefährten verloren hast, so ist die Erkenntnis doch das Höchste. Wir sind so wenige, dass Erkenntnis immer ein Glück ist."

Schnitter rutschte zu Himmelweis hinüber. "Erzähl', alter Freund. Das war doch noch nicht alles, oder? Ich kenne dich. Du verheimlichst mir etwas. Hat es mit deiner Suche oder mit Silbermond zu tun?" fragte Schnitter ungeduldig. Himmelweis wirkte verlegen. Etwas, was Schnitter an seinem Freund gar nicht kannte.

"Ich.....Silbermond........sie hat...." druckste er herum.

"Nun mach' schon. Spuck's aus." drängte Schnitter.

"Sie kennt meinen Seelennamen." wich er der Wahrheit aus.

"Ja, und? Den kenne ich auch!"

"Ich.....ich habe sie erkannt!" brach es aus Himmelweis heraus.

"Du alter Schwerenöter hast eine Elfe erkannt?" Schnitter war erstaunt. "Ich hatte schon die Hoffnung aufgegeben, dass dir das auch mal widerfährt. Wie schön für dich." Schnitter klopfte Himmelweis anerkennend auf die Schulter.

III

Das Leben im Lager nahm wieder seinen normalen Lauf. Etwas unschlüssig, was sie zur Gemeinschaft beitragen könnte, ging sie zu Leetah. "Hallo Silbermond." begrüßte die Heilerin sie. "Was kann ich für dich tun? Du bist doch nicht krank, oder?"

"Nein." antwortete Silbermond. "Ich möchte auch meinen Teil zum Leben hier beitragen, aber ich weiß nicht wie."

"Du könntest mit auf die Jagd gehen."

"Ja schon, aber ich glaube, dass eure Jäger eine eingespielte Gemeinschaft sind. Da störe ich nur."

"Wie wäre es, wenn du mir von deinen Heiler-Fähigkeiten erzählst. Bist du zur Selbstheilung fähig?"

"Ja, in begrenzten Maßen. Den Hohen sei Dank musste ich mich noch nie von größeren Verletzungen heilen."

"Du sagtest gestern, du seiest Kräuterkundige. Heißt das, dass du nicht immer deine Heiler-Kräfte einsetzt?"

"Ja, ich versuche immer erst, Krankheiten mit Kräutertränken oder Umschlägen zu heilen. Außer bei schweren Verletzungen. Da experimentiere ich nicht lange herum, sondern setze gleich meine Heilkraft ein. Das Heilen mit den geheimen Kräften ist aber für mich sehr anstrengend. Ich brauche danach immer sehr lange Zeit, um mich zu erholen. Wie heilst du?"

"Ich kenne leider keine Heilkräuter, so dass ich mich voll und ganz auf meine Kraft verlassen muss." sagte Leetah. Nach einer Pause, in der beide ihren Gedanken nachhingen, sagte Leetah:" Könntest du mir dein Wissen über Heilkräuter vermitteln?"

"Ja gerne." erwiderte Silbermond erfreut.

Kurze Zeit später zogen Leetah und Silbermond mit Körben bewaffnet los, um Kräuter zu suchen. Silbermond zeigte der anderen Heilerin, wo sie wuchsen und welche Teile der Pflanzen am wirksamsten waren. So verging der Tag mit fröhlichem Geplauder und Lachen. Als die beiden Elfen ins Lager zurückkamen, wurden sie schon ungeduldig von Himmelweis und Schnitter erwartet.

"Wo ward ihr so lange?" verlangte der Anführer der Wolfsreiter zu wissen.

"Wir haben uns Sorgen um euch gemacht!" fügte Himmelweis grimmig hinzu. Leetah und Silbermond sahen sich an und kicherten. "Och, wir können schon ganz gut auf uns selber aufpassen." erwiderte Silbermond fröhlich. "Aah, Frauen!" schnaufte Himmelweis und rannte auf Silbermond zu. Mit einem spitzen Schrei ließ die silber-haarige Elfe den Korb mit den Kräutern fallen, wandte sich um und lief auf den großen Baum zu, um sich vor Himmelweis' gespielter Wut in Sicherheit zu bringen. Schnitter und Leetah sahen ihnen lachend hinterher. "Mal ernsthaft," sagte Schnitter. "Ihr ward ziemlich lange weg. Was habt ihr den ganzen Tag gemacht?"

"Silbermond hat mir gezeigt, wo man Heilkräuter finden kann und wofür man sie verwendet. Nun bin ich nicht mehr nur auf meine magische Heilkraft angewiesen. Wenn auch Reinwasser oder Abendrot etwas von diesem Wissen erlernen, sind wir viel besser gegen die Fährnisse des Lebens gefeit." antwortete Leetah.

"Ja, schaden kann dieses Wissen nicht. Und wenn die Last des Heilens etwas verteilt werden kann....."

IV

Himmelweis und Silbermond waren mittlerweile kichernd und prustend in ihrer Baumhöhle angekommen. Erschöpft warf sich Silbermond in die Felle. "Mir dampfen die Füße." sagte sie und zog ihre Stiefel aus. "Und warm ist mir auch!" Sie sah ihm in die Augen. "Dir nicht?" fragte sie Himmelweis. "Doch, ich koche vor Wut." antwortete er fröhlich. "Ich glaube, ich muss dir den Hintern versohlen." Sprach's und zog sie mit gerunzelter Stirn an sich heran. "Oder ich werde dich zur Strafe küssen bis dir die Luft wegbleibt."

"Oh ja." hauchte Silbermond. Himmelweis setzte seine Drohung sofort in die Tat um und drücke sie sanft wieder in die Felle. Und während er sie ungestüm küsste, versuchte er mit einer Hand ihr Oberteil aufzuschnüren. "Heh, was wird das?" fragte sie atemlos. "Ich denke, dir ist warm." grinste Himmelweis und machte unbeirrt weiter. Lustvoll ließ es Silbermond über sich ergehen.....

V

Die Tage kamen und gingen, jeder im Lager der Wolfsreiter ging seinen Aufgaben nach. Die Elfen gingen auf die Jagd. Mondschatten verarbeitete die Felle der erlegten Tiere. Leetah lernte von Silbermond viel über Heilkräuter und ihre Anwendung. Und auch Silbermond lernte. Leetah und Sonnenstrahl lehrten sie, ihre magische Heilkraft besser zu nutzen, so dass sie nach einer Heilung nicht mehr so erschöpft war.

Die Abende verbrachten die Elfen gemeinsam am Feuer. Sie plauderten, diskutierten und oft erzählte Werfer eine Geschichte. Auch Silbermond wurde aufgefordert, vom Leben der Waldelfen zu berichten. Manchmal erzählte sie auch die Geschichten und Legenden, die ihr Stamm kannte.

"Vieles, was eure Legenden berichten, entspricht der Wahrheit." sagte Schnitter eines Abends. Silbermond sah ihn fragend an.

"Nun ja, eure Geschichten berichten von Elfen, die mit Wölfen in Wäldern leben. Sie sprechen offensichtlich von uns. Die Elfen mit brauner Haut, die in der Wüste leben, sind die Bewohner des Sonnendorfes. Leetah und unsere Kinder sind dort geboren. Einige von uns leben immer noch dort."

"Aber Elfen, die in einer Gegend leben, in der der weiße Tod ewig herrscht, sind sicher nur ein Märchen, oder?" erwiderte Silbermond.

"Nein." sagte Himmelweis. "Auch die Schnee-Elfen gibt es. Sie leben in ständigem Kampf mit den Trollen."

"Warum?" fragte Silbermond.

"Was für eine Frage bei Trollen!" empörte sich Werfer. "Weißt du eigentlich, was, oder besser, wie Trolle sind?"

"In unserem Wald lebten auch Trolle. Wir haben mit ihnen gehandelt. Wir brachten ihnen Heilkräuter und Felle und erhielten dafür Waffen und Schmuck. Mein Dolch, zum Beispiel, ist auch von den Trollen." sagte Silbermond und zog den Dolch hervor. Sie reichte ihn Schnitter, der ihn neugierig betrachtete. "Was für ein Metall ist das? Solch eine schwarze Klinge habe ich noch nie gesehen." fragte Schnitter erstaunt und reichte den Dolch an Baumstumpf weiter, der die Waffe interessiert betrachtete.

"Ich weiß es nicht. Die Trolle nennen es Drachenblut. Es ist extrem hart, aber sehr biegsam. Es ist fast unmöglich, so eine Klinge abzubrechen. Sie hat mich Unmengen von Heilkräutern gekostet. Aber letztlich hat sie mir nichts genützt. Ich konnte den Überfall auf unser Lager damit nicht verhindern." sagte Silbermond. "Und den Tod von Silberbart auch nicht." setzte sie leise hinzu. Aber nicht leise genug, dass es Himmelweis und Leetah nicht hörten. Himmelweis legte liebevoll den Arm um sie und zog sie zu sich heran. Leetah aber war tief in Gedanken versunken.

VI

Später, in ihrem gemeinsamen Nest hoch oben im Baum, sprach sie noch lange mit Schnitter über Silbermonds Erzählungen.

"Es ist genauso schlimm wie bei Reinwasser damals." sagte die Heilerin.

"Ja, aber Baumstumpf hat es besser geschafft, sie zu trösten, als es Himmelweis vermag." wandte Schnitter ein.

"Baumstumpf kannte ja auch Einauge. Sie waren Freunde. Himmelweis kannte Silbermonds Gefährten nicht. Und sein Tod ist ja noch nicht einmal gewiss. Er hat immer das Gefühl, sie ihm wegzunehmen. Das spürt Silbermond. Und ich denke auch, sie hat Angst vor ihren eigenen Gefühlen gegenüber Himmelweis." entgegnete Leetah. "Ich glaube, Silbermond denkt, das sie Silberbart verrät, wenn sie sich zu Himmelweis bekennt."

"Was können wir nur für die beiden tun?" überlegte Schnitter. "Jetzt ist Himmelweis halbwegs wieder normal, weil seine Träume aufgehört haben. Nun fängt er an, sich Sorgen um Silbermond zu machen. Er hat heute bei der Jagd zweimal die Beute entkommen lassen und obendrein auch noch danebengeschossen. So kenne ich ihn gar nicht."

"Vielleicht," überlegte Leetah, "sollte Sonnenstrahl versuchen, mit Silberbart Kontakt aufzunehmen. Silbermond hat zwar erzählt, sie könne über große Entfernung mit ihrem Gefährten senden, aber Sonnenstrahls Kraft ist doch stärker. So hätte sie wenigstens Gewissheit, was mit ihm ist. Was denkst du, Geliebter?" Schnitter überlegte. Es war immer gefährlich, Gedankenkontakt zu fremden Elfen aufzunehmen. Andererseits konnte es weder mit Himmelweis noch mit Silbermond so weiter gehen. Einen Jagdgefährten, der die Beute sausen ließ, konnte er nicht gebrauchen. Jemand, der nicht mit allen Sinnen bei der Sache war, gefährdete aber auch die Sicherheit des Stammes. Und wenn er Silbermond half, so half er auch Himmelweis und letztlich auch der Harmonie im Lager. "Also gut. Wenn Sonnenstrahl sich dieser Aufgabe gewachsen fühlt, soll er es versuchen. Aber Langbogen und du, ihr leitet und schützt ihn." antwortete Schnitter. "Und nun genug geredet. Jetzt verlange ich mein Recht als dein Gefährte." Sprach's und zog Leetah zu einem langen Kuss an sich.

Auch das Nest von Himmelweis und Silbermond war erfüllt von Liebe und Zärtlichkeit. Sichtlich erschöpft ließ sich Himmelweis in die Felle sinken. "Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du mit deinen Gedanken nicht im Hier und Jetzt bist." sagte Himmelweis. "Du denkst an Silberbart, nicht wahr?" Silbermond drehte ihm den Rücken zu und schwieg. "Silbermond. Was ist los?" fragte er und streichelte zärtlich ihre Schulter. Sie registrierte diese Berührung nicht, denn ihr Denken schweifte zurück durch Zeit und Raum. Zurück zum Lager der Waldelfen und zurück zu ihrer Familie. Sie fühlte sich bei den Wolfsreitern wohl, aber irgendwie hatte sie auch das Gefühl, hier nicht hinzugehören. Die Ungewissheit über Silberbarts und Mondkinds Schicksal nagte an ihrer Seele. Auf der einen Seite war sie Himmelweis ehrlich zugetan, auf der anderen Seite glaubte sie noch nicht an den Tod Silberbarts.

Was, wenn er und Mondkind noch lebten? Was, wenn beide verzweifelt nach ihr suchten? Hatte sie das Lager der Waldelfen zu früh verlassen? Hätte sie länger und noch intensiver suchen sollen? Aber es gab keine Spuren, die sie hätte verfolgen können. Selbst Mondsänger, der die feinste Nase des Rudels hatte, hatte keine Fährte aufnehmen können. Doch wo waren die Waldelfen? Sie hatte nur drei Tote gefunden. Und die Anderen? Wo waren sie? Hatten vielleicht die Menschen sie entführt? Das würde das Fehlen jeglicher Spuren erklären. Aber die Wölfe? Das die Fünffinger die auch mitgenommen hatten, konnte Silbermond sich nicht vorstellen. Sie hätten sie wohl eher getötet. Und wenn die Wölfe entkommen waren, warum hatte Mondsänger dann keine Fährten gefunden? Das alles war sehr mysteriös. All' diese Fragen beschäftigten Silbermond sehr. Doch über diese Grübeleien schlief sie letztendlich ein.

VII

"Silbermond?" fragte Leetah. "Was ist mit dir?" Silbermond blickte Leetah mit großen Augen an, ohne sie richtig zu sehen. "Du bist mit deinen Gedanken wieder bei Silberbart, oder?"

"Wie? Was? Oh, ja, ja." antwortete Silbermond verdattert. Leetah nahm ihr das Bündel Singkraut aus der Hand und tat es in den Korb. "Ich habe mit Schnitter gesprochen. Wenn du möchtest, kann Sonnenstrahl versuchen, Kontakt mit Silberbart aufzunehmen. Du weißt, er hat sehr starke magische Kräfte." Silbermond blickte Leetah dankbar an. "Das würde er tun?"

"Ja. Es ist keine Garantie, dass es klappt. Aber es ist einen Versuch wert."

Am Abend versammelten sich die Elfen wie immer am Feuer. Silbermond und Himmelweis saßen etwas abseits. Leetah kam mit Sonnenstrahl zu ihnen herüber. "Wollen wir es versuchen?" fragte Leetah.

"Ja, ich bin bereit." antwortete Silbermond. Leetah blickte zu Langbogen und sendete: *Bist du bereit, uns beizustehen?* Langbogen blickte auf, nickte und gesellte sich zu den vier Wartenden.

Sonnenstrahl und Silbermond fassten sich an den Händen und schlossen die Augen. Leetah und Langbogen bildeten mit ihren Armen einen Kreis um die beiden, ohne sich jedoch zu berühren. Himmelweis sah gespannt zu, wie Energie sowohl zwischen Silbermond und Sonnenstrahl, als auch zwischen Leetah und Langbogen floss. Sonnenstrahl schickte seine Gedanken aus. Auch Silbermond versuchte, verstärkt durch Leetahs und Langbogens magische Energie, mit ihren Gedanken Silberbart zu erreichen. Plötzlich spürte sie ein Kribbeln, als ob ein ganzer Stamm von kleinen Waldläuferchen über ihren Körper laufen würde. Ein melodisches Summen drang in ihre Gedanken und ein Bild formte sich in ihrem Geist. Das Bild von Silberbart! Sie öffnete ihren Geist für Sonnenstrahl, so dass auch er dieses Bild sah. Und Sonnenstrahl schickte seinen Geist auf die Suche. Feine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, sein Gesicht verzerrte sich zu einer Maske der Anstrengung. Leetah, Langbogen und Silbermond war die Anstrengung ebenfalls anzusehen. Nervös spielte Himmelweis mit dem Magnetstein, denn auch auf ihn übertrug sich die Anspannung, die über diesem Kreis lag.

Schnitter blickte zu der kleinen Gruppe hinüber. Die Worte Werfers drangen zwar in sein Ohr, aber nicht in seine Gedanken. Die weilten bei Leetah und Sonnenstrahl. Als er die Spannung nicht mehr aushielt, stand er auf und ging zu Himmelweis. "Gibt es schon einen Kontakt?" fragte er flüsternd. Himmelweis schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht."

"Meinst du, dass sie es schaffen?"

"Wenn Silbermonds Gefährte noch lebt, dann, denke ich, wird Sonnenstrahl es schaffen, Kontakt zu ihm herzustellen."

Plötzlich ging eine Veränderung durch den Kreis der vier Elfen. Sonnenstrahls Gesicht entspannte sich und ein Lächeln huschte darüber. Auch Silbermond lächelte. Doch dann begann sie zu keuchen und sich zu krümmen. Wie unter Peitschenschlägen zuckte sie zusammen. Dann, ganz unvermittelt, riss sie die Augen auf, starrte durch Sonnenstrahl hindurch und brach zusammen.

"Silbermond!!" schrie Himmelweis und sprang auf. Leetah und Langbogen ließen erschöpft die Arme sinken. "Aus!" flüsterte Leetah. Mit einem Satz waren Schnitter und Himmelweis bei Leetah und Silbermond. Schnitter konnte die erschöpfte Leetah gerade noch auffangen, während Himmelweis sich um die zusammengebrochene Silbermond bemühte. Ihre Hände waren um die Sonnenstrahls verkrampft, so dass das Elfenkind sich nicht befreien konnte. Mit Langbogens Hilfe gelang es jedoch. Liebevoll bettete Himmelweis Silbermonds Kopf in seinem Schoß. "Silbermond, hörst du mich?" flüsterte Himmelweis und strich ihr besorgt über Stirn und Wangen. Keine Reaktion. Ihr Atem ging stoßweise.

"Leetah, was ist geschehen?" Schnitters Gesicht zeigte deutlich die Sorge um seine Familie. Ein schneller Blick zu Langbogen und Sonnenstrahl zeigte ihm jedoch, dass es seinem Sohn gut ging. "Ich weiß nicht genau. Irgendetwas Dunkles war da. Aber ich kann nicht genau sagen, was es war. Vielleicht kann Sonnenstrahl uns diese Frage beantworten." Schnitter ging zu seinem Sohn hinüber und sah ihn fragend an. "Vater!" Man sah, dass Sonnenstrahl immer noch damit beschäftigt war, das Erlebte zu verarbeiten. "Vater, da war.....etwas Großes, Dunkles. Es hat die Verbindung so plötzlich unterbrochen, dass ich es sogar körperlich gespürt habe."

"Winnowill?" fragte Schnitter scharf.

"Nein, es war nichts böses in diesen fremden Gedanken. Nur etwas überaus Mächtiges. Und es war unsagbar dunkel." Sonnenstrahl konnte es immer noch nicht begreifen. "Was ist mit Silbermond?" fragte er und sah zu ihr hinüber. In diesem Moment begannen ihre Augenlieder zu flattern und sie bewegte sich unruhig, als ob sie schlecht träumen würde. Dann schlug sie die Augen auf und blickte verwirrt um sich. "Silbermond. Wie geht es dir?" fragte Himmelweis.

"Ich.... ich weiß nicht. Oh, ihr Hohen, es war schrecklich!" Silbermond kämpfte sichtlich mit ihren Empfindungen. Sie richtete sich langsam auf, liebevoll gestützt von Himmelweis. "Berichte uns." forderte Leetah sie auf, die nun mit Langbogen, Schnitter und Sonnenstrahl herüberkam. "Es war schrecklich. Zuerst merkte ich, das Sonnenstrahl seinen Geist auf die Reise schickte. Wir erreichten auch unseren Wald. Ich glaubte, in der Ferne die Gestalt von Silberbart auszumachen. Und plötzlich, wie ein Blitzschlag, war da etwas unsagbar Dunkles, sehr Mächtiges. Es versuchte, mich an sich zu ziehen, fort von Sonnenstrahl, von euch und wohl auch von dieser Welt...."

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