V

SCHNEEWÖLFIN

I

Die Reise durch die Ebene erwies sich als weniger abenteuerlich, als Himmelweis es sich vorgestellt hatte. Tagein, tagaus folgten sie dem lebensspendenden Tagstern, jagten und rasteten des Nachts. Silbermond schickte immer wieder ihre Gedanken auf die Reise, in der Hoffnung doch noch Kontakt zu einem Mitglied ihres Stammes oder zu Silberbart zu bekommen. Vergeblich. Aber sie ließ sich nicht entmutigen. Je länger ihre Reise dauerte, um so größer wurde ihre Zuversicht, eines Tages doch wieder mit Silberbart vereint zu sein. Woher sie diese Gewissheit nahm konnte sie nicht sagen.

Ihre Reise dauerte nun schon einen ganzen Mondzyklus an, ohne jedes Ereignis. Doch eines Morgens, sie hatten gerade einen kleinen Hügel erklommen, der ihnen eine gute Rundumsicht bot, sahen sie in der Ferne ein Glitzern. "Was ist das?" fragte Himmelweis.

"Ich weiß nicht. Vielleicht wieder ein Fluss oder Bach. Die Gegend hier ist ja voll davon. Lass uns hinreiten und sehen, was es ist." Und so ritten sie in Richtung des Glitzerns. Als die Sonne schon lange den Zenit überschritten hatte, erreichten sie einen riesigen See, der zum Verweilen und baden einlud. "Wir sollten uns ein paar Tage Ruhe gönnen." schlug Silbermond vor. "Seit über zwei Mondläufen sind wir nun schon unterwegs. Ich bin zwar begierig Silberbart zu finden. Aber ein oder zwei Tage mehr machen auch nichts aus. Wir haben uns die Pause verdient und die Wölfe können eine Ruhepause auch gebrauchen."

"Das ist wahr. Ich habe unbändige Lust auf ein Bad. Der Tag heute war heiß genug." Hurtig entledigte sich Himmelweis seiner Kleider und war schon im Wasser, bevor Silbermond überhaupt von Mondsängers Rücken runter war.

"Was ist? Bist du wasserscheu?" rief er ihr aus dem Wasser zu.

"Darf ich vielleicht erst mal meine Sachen ausziehen?" fragte Silbermond schnippisch zurück. Ebenso schnell wie Himmelweis hatte sich die Elfe aus ihren Sachen geschält und war ruckzuck im Wasser. Wie die Elfenkinder tobten die beiden im Wasser herum, bespritzen sich, schwammen um die Wette und tauchten sich gegenseitig unter. Die Wölfe lagen im Schatten des Uferwaldes und hatten ein breites Grinsen auf den Gesichtern.

Ein Zeitspanne später lagen Silbermond und Himmelweis im Gras des Ufers und ließen ihre Körper von der untergehenden Sonne trocknen. Silbermond drehte sich auf die Seite, stütze den Ellenbogen auf und betrachtete Himmelweis' nackten Körper.

"Na, endlich bist du mal richtig sauber." stichelte sie. "Dein herber Trollgeruch wird mir fehlen."

"Wer hatte hier einen herben Trollgeruch? Du hast aber auch nicht gerade wie eine Hohe gerochen." erwiderte Himmelweis mit gespielter Empörung und warf eine Handvoll Gras nach ihr. Lachend warf sie das Gras zurück und schon war die schönste "Gras-Schlacht" im Gange. Endlich sagte Silbermond:" Genug. Ich ergebe mich." und hob die Hände zum Zeichen der Aufgabe. Himmelweis trat an sie heran und begann, das Gras aus ihren Haaren zu zupfen. "Weißt du eigentlich, dass deine Augen wie der See glitzern?" fragte er und zog sie an sich. Noch bevor sie antworten konnte verschloss er ihren Mund mit einem heißen Kuss. Die untergehende Sonne sah den leidenschaftlichen Kampf zweier Elfen.

"Weißt du, Silbermond," sagte Himmelweis, als sie später am Feuer saßen. "Irgendwie verstehe ich dich nicht. Auf der einen Seite suchst du verzweifelt nach Silberbart. Du nimmst Gefahren und Unannehmlichkeiten auf dich, um ihn zu finden. Dabei weißt du nicht einmal, ob er überhaupt noch lebt und wo er ist. Auf der anderen Seite........" Verlegen hielt er inne.

"Gebe ich mich dir hin, als wenn du der einzige Elf auf der Welt wärst." beendete Silbermond seinen Satz.

"Ja. Das geht nicht in meinen Kopf."

"In meinen auch nicht. Ich verstehe mich selber nicht. Kann man die Erkenntnis mit zwei Elfen gleichzeitig teilen? Oder bedeutet die Erkenntnis mit dir, dass Silberbart tot ist? Je mehr ich über diese Fragen grübele, umso mehr neue Fragen tun sich auf. Wenn ich nicht bald ein paar Antworten bekomme, werde ich noch wahnsinnig."

"Lieber nicht! Ein wahnsinniger Halbelf reicht mir schon, da brauche ich nicht noch eine wahnsinnige Elfe." grinste Himmelweis und erzählte ihr von Zwei-Schneid.

Sie rasteten mehrere Sonnenumläufe am See. Die Wölfe schliefen sich gründlich aus und auch die Elfen genossen das faule Leben. Sie badeten, gingen im Uferwald auf Jagd und sammelten Beeren und Pilze als Vorräte für die weitere Reise. Der See war voller köstlicher Fische. Silbermond zeigte Himmelweis wie man mit wenigen Handgriffen eine Reuse zum Fischfang baute.

"Schade das wir die Fische nicht lebend mitnehmen können." sagte Himmelweis.

"Wieso?"

"Na, dann hätten wir unterwegs immer etwas zu essen, wenn uns mal das Jagdglück verlässt."

"Aber wir können sie doch haltbar machen." entgegnete Silbermond erstaunt.

"Ach ja? Wie denn?"

"Wir räuchern sie!"

"Was ist denn das?" fragte Himmelweis neugierig.

"Haben die Wolfsreiter nie Vorräte angelegt?"

"Nein, wir haben die Beute immer gleich mit unseren Wölfen geteilt und auch gleich gegessen."

"Und in der Zeit des weißen Todes? Was habt ihr da gemacht, ohne Vorräte?" wunderte sich Silbermond.

"Kohldampf geschoben und von ein paar mageren Hasen gelebt. Besonders für Werfer war das immer eine harte Zeit." grinste Himmelweis beim Gedanken an den Geschichtenerzähler. "Kaum was zu essen und keine Traumbeeren." Silbermond schüttelte nur den Kopf.

"Beim Räuchern werden die Fische über einem kleinen, qualmenden Feuer gegart. Der Rauch verhindert, dass das Fischfleisch verdirbt. Man kann auch Wild räuchern, aber das dauert recht lange. Außerdem schmeckt es frisch besser." Silbermond begann eine flache Grube auszuheben. Dann schichtete sie trockenes Feuerholz hinein und entzündete es. Obenauf warf sie einige Händevoll Kräuter.

"Und jetzt?" fragte Himmelweis, als das Feuer qualmend zu brennen begann.

"Jetzt spießen wir die Fische auf Stöcke und legen sie über das Feuer. Siehst du, so. Und damit das Feuer nicht zu hoch brennt, decken wir das Ganze mit grünen Zweigen ab." Bald kräuselte sich nur noch eine dünne Rauchfahne durch die Blätter und ein köstlicher Geruch breitete sich aus. "Wie lange dauert das jetzt?" wollte Himmelweis wissen.

"Na, ungefähr zwei Zeitspannen."

"Und dann?"

"Dann kann man sie essen." antwortete Silbermond. "Sie schmecken herrlich."

"In der Zwischenzeit könnten wir doch............" begann Himmelweis grinsend.

"Oh nein, mein Lieber. Du wirst dich mal ein bisschen in Selbstzucht üben" antwortete Silbermond mit einem breiten Grinsen. "Und die Wasserschläuche säubern. Die haben es nämlich bitter nötig." Grummelnd entfernte sich Himmelweis, um seinen Auftrag zu erledigen. Silbermond überwachte den Räuchervorgang und als Himmelweis mit den sauberen Wasserschläuchen vom See zurückkam, lagen bereits zwanzig goldbraun geräucherte Fische neben der Feuerstelle.

"Oh, die sehen aber lecker aus!" bemerkte Himmelweis.

"Und sie schmecken noch besser." entgegnete Silbermond. "Komm, lass uns essen." Nach der Mahlzeit waren immer noch viele Fische übrig. "Und was machen wir nun mit den restlichen Fischen?" fragte Himmelweis.

"Die wickeln wir in diese großen Blätter hier. Dann können wir sie hervorragend als Proviant mitnehmen. Lass uns morgen weiterziehen, sonst werden die Wölfe allzu faul. Ich habe das Gefühl, Mondsänger setzt Speck an."

"Da könntest du Recht haben. Sternspringer steht auch schon ganz gut im Futter."

II

Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, zogen sie wieder los. Die weite Ebene ging langsam in einen recht lichten Wald über. Eines Morgens stießen sie auf Wolfsspuren. "Sieh mal." sagte Silbermond und wies auf den Waldboden. "Wolfstritte. Ob das wilde Wölfe sind?"

"Nein." sagte Himmelweis und saß ab. "Neben der Pfotenspur ist noch eine andere. Sieht aus wie eine Menschenspur."

"Dafür ist sie zu klein." sagte Silbermond. "Außerdem, Menschen und Wölfe? Das kann ich mir nicht vorstellen." Sie betrachtete die Spur genauer. Mit dem Finger zeichnete sie die Spur nach. "Das ist eine Elfenspur!" sagte Silbermond erstaunt. Aber der oder die Elfe ist vermutlich allein. Es sind sonst keine weiteren Trittmale zu sehen."

"Vielleicht ein Kundschafter?" vermutete Himmelweis.

"Nein. Sieh mal, die eine Fußspur ist ein bisschen verwischt. Das heißt, der Elf muss hinken oder sonst irgendwie das Bein nachziehen. Und hier." Silbermond stand auf und ging ein paar Schritte weiter. "Hier ist eine Blutspur. Ob der Wolf den Elf verfolgt?" überlegte sie.

"Lass uns der Spur folgen, dann werden wir das Rätsel am ehesten lösen", sagte Himmelweis. Vorsichtig, mit gezogenen Waffen, gingen sie weiter. Plötzlich stand ein junger, grau-weißer Wolf mit hochgezogenen Lefzen und gebleckten Zähnen vor ihnen. *Vorsicht!* sendete Himmelweis. *Vielleicht ist das der Wolf, der den Elf angefallen hat.*

*Nein. Ich glaube eher, das ist sein Wolf. Sieh mal da, auf der kleinen Lichtung. Da liegt der Elf. Er scheint ziemlich schwer verletzt zu sein. Beschäftige du den Wolf. Ich sehe mir den Verletzten an.*

*Und wie soll ich den Wolf beschäftigen?* fragte Himmelweis.

*Kannst ihm ja ein Lied vorsingen.* sendete Silbermond mit einem Grinsen. Sie kümmerte sich nicht weiter um Himmelweis und die Wölfe. Als sie neben der am Boden liegenden Gestalt in die Knie ging, sah sie, dass der vermeintliche Elf eine recht junge Elfe war. Ihre linke Seite , vom Knie bis fast zur Schulter, war eine einzige blutende Wunde. Oh, ihr Hohen, dachte Silbermond. Was ist denn diesem Kind widerfahren. Hier konnte sie mit Heilkräutern nichts ausrichten. Nun würde sich zeigen, ob sie bei Leetah gut gelernt hatte. Silbermond legte ihre zitternden Hände auf die Wunde, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihre Heilkraft. Langsam, sehr langsam begann die Wunde sich zu schließen. Silbermond spürte, wie ihre Kraft sie immer mehr verließ. Aber auch, dass sich die Wunde nun ganz geschlossen hatte. Erschöpft sank sie auf die Hacken zurück. Sie betrachtete die junge Elfe genauer. Von der dunkelgrünen, enganliegenden Hose und dem in verschiedenen Brauntönen gefleckten, kurzärmeligen Hemd war nicht mehr viel übrig. Die langen, dunkelbraunen Haare hingen ihr wirr ins bleiche Gesicht. Sie war sehr blass, was angesichts der Verletzungen nicht verwunderlich war.

"Wie geht es ihm?" fragte Himmelweis leise hinter ihr. "Heh, das ist ja ein Mädchen!"

"Ja und ziemlich schwer verletzt."

"Wird sie es schaffen?"

"Ich hoffe es. Meine Kräfte sind nicht so stark wie Leetahs." antwortete Silbermond. "Was ist mit dem Wolf?"

"Als er sah, dass du zu ihr gingst, wollte er sich gleich auf dich stürzen. Aber Mondsänger ist dazwischen gegangen."

"Ach, mein alter Freund." sagte Silbermond und kraulte ihn zwischen den Ohren. Auch der fremde Wolf war nun zu ihnen getreten und beschnüffelte die verletzte Elfe. Anscheinend gefiel ihm, was er sah, denn er legte sich neben sie, ohne jedoch Himmelweis und Silbermond aus den Augen zu lassen. "Er ist wirklich ihr Wolf." stellte Himmelweis fest.

"Ja und er verteidigt seine Elfenfreundin mit allen Mitteln."

"Was jetzt?" fragte er.

"Wir sollten unser Lager hier aufschlagen. So können wir sie ja nicht alleine lassen. Geh' mal gucken, ob du hier irgendwo einen Wasserlauf findest. Wir brauchen frisches Wasser, damit ich sie säubern kann. Außerdem muss ich ihr einen Heiltrank brauen."

"Und der Wolf?" fragte Himmelweis mit einem scheelen Seitenblick.

"Der tut mir nichts. Ersten spürt er mit Sicherheit, dass ich es gut mit ihr meine und außerdem sind ja noch Mondsänger und Sternspringer da." antwortete sie. Als Himmelweis mit dem Wasser zurückkam, begann Silbermond mit dem Zusammenrühren des Trankes.

"Kann ich dir irgendwie helfen?"

"Ja, du kannst ein Feuer machen. Dieser Trank muss eine ganze Weile kochen. Rühr' ihn ab und zu um, damit die Kräuter nicht anbrennen, sonst verlieren sie ihre Heilkraft. Ich kümmere mich um das Mädchen." Silbermond suchte in ihrem Bündel nach einem Stück Stoff, mit dem sie die junge Elfe waschen konnte. Da die Kleidung kaum zu retten war, schnitt sie Hose und Hemd kurzerhand mit ihrem Dolch auf. Erst jetzt sah sie, dass der ganze Körper mit blauen Flecken und Schürfwunden übersät war. Himmelweis blickte zu ihnen hinüber und erstarrte. "Bei Timmorns Blut! Hat sie mit einer Horde Trolle gekämpft?"

"Wir werden warten müssen bis sie wach wird, um diese Frage zu klären. Momentan können wir gar nichts weiter tun." Nachdem Silbermond die Wunden versorgt und die Elfe gewaschen hatte, nahm sie den Umhang aus ihrem Bündel und breitete ihn über die Verletzte. Sie überprüfte den Heiltrank, fügte noch einige Kräuter hinzu und ließ ihn abkühlen.

Himmelweis und Silbermond aßen schweigend ihr Fleisch und hingen ihren Gedanken nach. Plötzlich begann die junge Elfe zu stöhnen. Mit einem Satz war Silbermond bei ihr. "Sie kommt zu sich." sagte sie zu Himmelweis. Auch der Wolf blickte aufmerksam auf die Elfe. "Hallo." sagte Silbermond. Die fremde Elfe versuchte sich aufzurichten und machte ganz den Eindruck, als ob sie fliehen wollte. "Sssshhhhh. Ganz ruhig." sagte Silbermond. "Du bist unter Freunden."

"Leicht.....Leichtpfote." flüsterte das Mädchen.

"Ist das dein Wolf?" Sie nickte. "Er ist hier und er ist in Ordnung." Erleichterung zeigte sich auf dem Elfengesicht. Silbermond wischte ihr nochmals über das Gesicht. "Himmelweis, bring mir bitte mal den Topf neben dem Feuer." Vorsichtig richtete sie die Elfe auf und hielt ihr den Topf mit dem Heiltrank an die Lippen. "Trink das, das wird die Heilung beschleunigen." Nach drei Schlucken sank sie erschöpft zurück. "Danke." flüsterte sie und schlief augenblicklich wieder ein.

"Was ist das für ein Trank?" fragte Himmelweis skeptisch.

"Ein Stärkungstrank, dem ich ein leichtes Schlafmittel beigemischt habe. Schlaf ist die beste Medizin."

"Ich glaube, von dieser Medizin können wir auch etwas vertragen."

"Schlaf du, ich passe auf sie auf."

"Nein, du schläfst auch. Sie kann keine übermüdete Heilerin gebrauchen. Ihr Wolf wird uns schon wecken, wenn etwas mit ihr ist." sagte Himmelweis entschieden.

III

Im Morgengrauen wurde Silbermond von einer nassen Wolfszunge geweckt. "Mondsänger, lass das sei....." Mit einem Schlag war sie hellwach. "Oh Leichtpfote, du bist's. Was ist mit ihr?" Sie blickte zu dem Mädchen und sah, dass sie wach war. "Du bist ein vorzüglicher Wächter." lobte Silbermond den Wolf und ging zu ihr hinüber. "Hallo, ich bin Silbermond. Wie geht es dir?"

"Danke. Es geht so." antwortete die junge Elfe.

"Wie heißt du?" fragte Silbermond. Das Mädchen sah sie misstrauisch an. Aber die Fremden hatten ihr das Leben gerettet, also sollte sie ihnen vertrauen.

"Mein Name ist Schneewölfin." sagte das Mädchen mit krächzender Stimme. Himmelweis war inzwischen zu den beiden getreten.

"Warte, ich hol' dir einen Heiltrank." Silbermond brachte einen kleinen Tonbecher, aus dem es verdächtig roch. "Ich weiß, es riecht nicht besonders gut und es schmeckt noch schlimmer, aber er bringt dich wieder auf die Beine." Tapfer trank Schneewölfin den Becher bis zur Neige leer. "Fein gemacht." lobte Silbermond.

"Wo......wo sind meine Kleider?" wunderte sich Schneewölfin.

"Ich musste sie leider aufschneiden um dich zu versorgen. Was ist überhaupt passiert?"

"Ich war auf der Jagd nach einem fetten Wildschwein. Plötzlich war es weg. Dafür stand ich unvermittelt einem riesigen Bären gegenüber. Bevor ich meinen Bogen heben konnte, schlug er zu. Ich sah nur noch, wie Leichtpfote sich auf den Bären stürzte. Ich habe versucht, so schnell wie möglich von ihm weg zu kommen. Auf dieser Lichtung muss ich dann zusammengebrochen sein."

"Ja, wir haben deine Spur gefunden. Das Blut hat uns zu dir geführt." bestätigte Silbermond.

"Wo ist Leichtpfote eigentlich?" fragte Schneewölfin.

"Direkt neben dir. Er hat die ganze Nacht über dich gewacht. Nun schläft er seinen wohlverdienten Schlaf." bemerkte Himmelweis. Mit einem Lächeln blickte Schneewölfin zu Leichtpfote.

"Er wollte uns auch von dir fernhalten." sagte Silbermond. "Er ist ein tapferer Bursche."

"Er würde für mich sein Leben geben." antwortete Schneewölfin. "So wie ich für ihn."

"Komm, setzt dich zu uns ans Feuer und versuch ein bisschen zu essen." lud Silbermond sie ein. Schneewölfin wickelte sich in den Umhang und ging, von Himmelweis und Silbermond gestützt, zum Feuer. "Oh ihr Hohen, was hat das Vieh mit mir gemacht?" stöhnte Schneewölfin mit zusammengebissenen Zähnen.

"Als wir dich fanden, warst du ziemlich schwer verletzt. Deine gesamte linke Seite war eine einzige blutenden Wunde. Es ist deiner Jugend zu verdanken, dass du noch lebst." Nachdenklich kaute Schneewölfin auf dem Fleisch herum, das ihr Himmelweis hingelegt hatte. "Bist du allein unterwegs oder gibt es hier einen Stamm?" wollte Silbermond wissen.

"Nein, ich bin allein unterwegs. Das heißt, mit Leichtpfote, also doch nicht so allein." sagte Schneewölfin.

"Magst du uns deine Geschichte erzählen?" fragte Himmelweis.

"Tja, wo soll ich da anfangen?" überlegte sie. Da das Reden noch ungewohnt für sie war sendete sie: *Am besten ganz am Anfang, bei meiner Geburt. Meine Mutter ist Cimara, sie lebt weit in die Richtung, in der die Sonne nie steht. Meinen Vater kenne ich nicht. Er soll ein Wanderer gewesen sein. Ich weiß nur, dass ich durch ihn Wolfsblut in den Adern habe.*

"Wolfsblut?" unterbrach sie Himmelweis. "Vielleicht war er ein Wolfsreiter?"

"Oder ein Waldelf. Auch wir haben Wolfsblut." warf Silbermond ein.

*Ich weiß es nicht. Ich kenne ihn nicht und meine Mutter hat mir nie mehr von ihm erzählt, als das ich durch ihn Wolfsblut habe.* sendete Schneewölfin.

"Erzähl weiter"

*Meine Kindheit war eigentlich ereignislos, bis auf die ständigen Streitereien mit Yoruk. Vielleicht war er eifersüchtig auf die Fähigkeiten, die mir mein Wolfsblut brachte. Ich wusste ja selber nichts davon. Nur war ich immer wieder erstaunt, viel besser riechen, hören und schmecken zu können als die anderen meines Stammes. Eines Tages wurde mein Stamm von einem Rudel Wölfen angegriffen.*

"Einfach so?" wunderte sich Himmelweis.

*Nun ja, es war die Zeit des weißen Todes und in diesem Jahr war es besonders kalt. Das Rudel war ausgehungert. Ich empfing fremdartige Gedanken, die mir aber auch irgendwie vertraut waren. Heute weiß ich, dass es die Gedanken der Wölfe waren, aber damals hat mich das alles sehr verwirrt. Wie gesagt, dass Rudel griff an. Auf Grund meines Wolfsblutes war ich in der Lage, die Wölfe durch senden zur Umkehr zu bewegen. Das Rudel zog weiter in Richtung Mittag. Aber ein Welpe blieb zurück. Ich fand ihn mehr durch Zufall. Mit seinem grau-weißen Fell war er im Schnee fast gar nicht zu sehen. Er war so klein und schwach. Da regte sich wieder mein Wolfsblut. Ich nahm ihn mit in unserer Hütte und nannte ihn Leichtpfote. Seit diesem Tag ist er mein Wolfsfreund. An jenem Abend enthüllte mir meine Mutter das Geheimnis meiner Geburt. Nur den Namen meines Vaters verschwieg sie mir. Nun war mir auch klar, warum ich die Wolfsgedanken empfangen konnte, warum ich soviel ausdauernder als die anderen aus meinem Stamm auf der Jagd war. Eine Tatsache, die Yoruk immer wieder zu Sticheleien veranlasst hat. Wir waren wie Feuer und Wasser.* Ihre Gedanken schweiften zurück zu ihrem Rivalen und es dauerte eine Weile bis sie weiter erzählte. *Leichtpfote wuchs heran und wurde ein hervorragender Jäger. Aber der Stamm war darüber geteilter Meinung. Die einen meinten, wir seien ein guter Schutz gegen wilde Tiere. Ein anderer Teil des Stammes, allen voran Yoruk, hielten uns für eine Bedrohung. Dieses ewige Hin und Her hielt ich bald nicht mehr aus. Deshalb habe ich mich vor zwei Jahreswechseln entschieden, den Stamm zu verlassen. Ich bin nun auf der Suche nach meinem Vater. Vielleicht nimmt mich sein Stamm auf, denn dort wird mein Wolfsblut hoffentlich keine Bedrohung sein.* Erschöpft hielt Schneewölfin inne.

"Ruh' dich aus und schlaf ein bisschen. Du kannst uns später weiter berichten." sagte Silbermond. Schneewölfin rollte sich dankbar in Silbermonds Umhang und schlief ein.

"Bei Feuerbringers Augen, was hat dieses Kind schon alles durchgemacht." flüsterte Silbermond und blickte auf die schlafende Elfe

"Wer, bitte, ist Feuerbringer?" fragte Himmelweis.

"Der zweite Anführer der Waldelfen. Er stammt von Timmorn Gelbauge ab, bei dessen Blut du ja so gerne schwörst." grinste Silbermond.

"Willst du damit sagen, dass die Wolfsreiter und die Waldelfen den gleichen Ursprung haben?" fragte Himmelweis erstaunt.

"Letztlich stammen wir doch alle von den Hohen ab, oder? Aber du hast Recht. Wir entstammen der selben Linie. Timmorn Gelbauge und seine Mutter Timmain sind auch unserer Vorfahren." bestätigte sie. "Nach unseren Legenden zeugte der Gelbäugige mit vielen Frauen Kinder. Eines davon war Feuerbringer, der seinem Volk das Feuer brachte. Daher auch sein Name. Und wie ich in eurem Lager gehört habe, sind unsere Legenden wahr."

"Ja, nach unseren Legenden war eines der Kinder Timmorns die Wölfin Rahnee. Sie war die zweite Anführerin der Wolfsreiter." So sprachen die beiden Elfen noch lange über die beiden Stämme und ihre Gemeinsamkeiten.

Die Sonne hatte schon fast den höchsten Punkt ihrer Laufbahn erreicht, als Schneewölfin erwachte. "Na Schneewölfin, wie fühlst du dich heute?" fragte Silbermond.

"Viel besser. Deine Tränke haben wahrlich magische Kräfte. Ich könnte Bäume ausreißen."

"Mal langsam. Fang erst mal an, aufzustehen." erwiderte Silbermond. "Und vor allen Dingen musst du etwas essen."

"Ja, ich habe Hunger wie ein Bär." grinste das Mädchen. Erstaunt beobachteten Silbermond und Himmelweis wie viel Fleisch in diesem zarten Elfenkörper verschwand. "Ah, das war gut!" stöhnte Schneewölfin genussvoll und lehnte sich zurück. "Wenn ich jetzt noch etwas zum Anziehen hätte, wäre mein Glück vollkommen. Wo sind eigentlich meine Waffen und der Rest meiner Sachen?" fragte sie.

"Sie liegen dort drüben. Himmelweis hat sie ein Stück entfernt gefunden. Ist alles da?" Schneewölfin untersuchte das Bündel und zog ein großes Stück grüngefärbtes Leder hervor. "Ja, vielen Dank, Himmelweis. Es fehlt nichts. Nur der Bogen hat etwas abbekommen, aber das kann ich leicht reparieren." antwortete sie. "Und hier draus werde ich mir neue Kleider nähen." sagte Schneewölfin und begann sofort mit ihrem Dolch das Leder zu zerschneiden. Nach knapp zwei Zeitspannen hatte sie eine neue Hose und ein neues Hemd für sich genäht. "So, nun fühle ich mich schon viel besser. Nichts gegen deinen Umhang, Silbermond, aber als einziges Bekleidungsstück ist er doch ungeeignet." sagte sie und überreichte ihn der älteren Elfe mit einem Lächeln.

"Willst du uns deine Geschichte weitererzählen?" fragte Himmelweis.

"Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Ich ziehe durch die Welt und suche meinen Vater. Aber was macht ihr hier?" fragte Schneewölfin zurück. Die beiden älteren Elfen sahen sich an und Silbermond begann zu erzählen. "Auch wir sind auf der Suche. Nach meinem Gefährten Silberbart und unseren Visionen." antwortete sie. Schneewölfin blickte verwirrt von einem zum anderen und so erzählten Himmelweis und Silbermond abwechselnd vom Überfall auf das Lager der Waldelfen, von ihren Träumen und dem missglückten Versuch der Kontaktaufnahme. Auch die rufende Macht ließen sie nicht aus. "Dann sind wir ja alle Suchende." sagte Schneewölfin nachdenklich. "Wenn du wieder bei Kräften bist, können wir ja zusammen unsere Reise fortsetzten." Dankbar blickte das Elfenmädchen Silbermond an.

V

Sie rasteten noch zwei Sonnenumläufe, bis Silbermond der Meinung war, das Schneewölfin für die weitere Reise kräftig genug sei. Wenn es nach der jungen Elfe gegangen wäre, wären sie schon lange unterwegs. Aber sie musste sich den Anordnungen der Heilerin fügen. Auch Himmelweis war unerbittlich. So nutzte Schneewölfin die Zeit, ihre ramponierten Waffen und die Ausrüstung zu reparieren. Am dritten Tag zog das Trio weiter. Die Reise verlief recht ereignislos, nur von gelegentlichen Jagden unterbrochen, die jetzt noch erfolgreicher verliefen, da sie nun zu dritt waren. Die vielen Wasserläufe, die sie überquerten, luden zum Baden und Verweilen ein. Die Landschaft wechselte fast täglich ihr Aussehen. Lichte Haine gingen in weite Ebenen über. Sumpfige Wälder endeten urplötzlich in sonnenverbrannten Steppen. Sie reisten langsam, um mit ihren Kräften zu haushalten. Oft gingen sie neben den Wölfen her, um auch deren Kräfte zu schonen.

Nach langer Zeit erreichten sie einen dichten, dunklen Wald. Leichtpfote lief voraus und wollte den Weg erkunden. Als plötzlich ein Hase aus dem Gebüsch sprang, schoss der junge Wolf vor, um ihn zu erlegen. Sein Leben außerhalb eines festen Rudels hatte ihn nie die Rangordnung der Wölfe gelehrt. Sternspringer hatte von Anfang an die natürliche Autorität Mondsängers als Leitwolf akzeptiert. Innerhalb des Wolfsrudels der Wolfsreiter waren beide Dornstich als Leitwolf untergeordnet. Hier lag die Sache jedoch anders. Mondsänger beanspruchte als ehemaliger Rudelführer der Waldelfen-Wölfe die ranghöchste Position in diesem kleinen Rudel. Und das bekam Leichtpfote nun schmerzhaft zu spüren. Mit einem wütenden Knurren fuhr Mondsänger dem grauen Wolf an die Kehle. "Leichtpfote!" schrie Schneewölfin entsetzt und wollte sich dazwischen stürzen.

"Nicht Schneewölfin!" riefen Silbermond und Himmelweis gleichzeitig.

"Halt dich aus den Rangkämpfen heraus. Das müssen die Wölfe unter sich ausmachen." sagte Himmelweis.

"Aber Mondsänger wird Leichtpfote umbringen!" rief die junge Elfe verzweifelt.

"Wenn Leichtpfote so dumm ist, sich dem Leitwolf zu widersetzten, dann ja." antwortete Silbermond. "Aber ich denke, er wird schnell lernen." Und Leichtpfote war nicht dumm. Innerhalb kürzester Zeit hatte Mondsänger klargestellt, wer der Leitwolf in diesem Rudel war. Devot klemmt Leichtpfote den Schwanz ein und bot Mondsänger die Kehle dar. Der schwarze Wolf akzeptierte diese Demutsgeste und ließ von ihm ab. "Warum hat Mondsänger das getan?" fragte Schneewölfin empört.

"Das ist das Gesetzt des Rudels." antwortete Silbermond.

"Aber Sternspringer hat er nie angefallen." erwiderte Schneewölfin.

"Der kennt seinen Platz im Rudel." sagte Himmelweis. "Und so lange Mondsänger stark ist, wird er ihm den auch nicht streitig machen." Mit gesenktem Kopf ließ das Elfenmädchen die Belehrung über sich ergehen. "Ich glaube, wir müssen beide noch viel lernen." Tröstend legte Silbermond den Arm um ihre Schultern. "Ihr seid beide noch jung. Ihr habt noch viel Zeit."

"Was ist mit Leichtpfotes Verletzungen?" fragte Schneewölfin. Silbermond untersuchte den jungen Wolf und antwortete:" Sie sind kaum der Rede wert. Das heilt von allein. Er war schlau genug, sich nicht gegen Mondsängers Autorität aufzulehnen und ist mit einigen Kratzern davon gekommen." Erleichtert streichelte Schneewölfin ihren Wolf.

Nachdem nun die Rangordnung geklärt war, liefen die Wölfe vorweg in den dunklen Wald hinein. Plötzlich blieb Silbermond wie angewurzelt stehen.

"Was....?" flüsterte Himmelweis, aber Silbermond hob rasch warnend die Hand.

*Vor uns ist etwas. Mondsänger sendet.* Himmelweis sah sie an und erstarrte.

*Silbermond, deine Augen!*

*Was ist mit meinen Augen?* fragte Silbermond alarmiert.

*Sie.....sie sind auf einmal ganz schwarz!*

*Gefahr!!!* sendete Silbermond aufgeregt.

Ehe sich die Elfen umwenden und fliehen konnten, waren sie bereits umzingelt.

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